Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
Er lehnte sich mit dem Kaffee zurück, den Linda-Gail vor ihn hingestellt hatte. »Essen Sie nur weiter, solange es heiß ist.«
Anstatt nur draufzustarren, als sei das Essen ein Rätsel, das erst noch gelöst werden muss, dachte er. Er praktizierte jetzt schon seit fast dreißig Jahren hier. Er war als junger Mann hergekommen und hatte sich auf eine Zeitungsanzeige des Stadtrats gemeldet. Genau das erzählte er Reece, die mit ihrem Essen spielte.
»Auf der Suche nach Abenteuern«, sagte er mit einem leicht westlichen Einschlag. »Ich hab mich auf Anhieb in den Ort hier verliebt, insbesondere in ein hübsches, braunäugiges Mädchen namens Susan. Wir haben hier drei Kinder großgezogen. Der Älteste ist selbst Arzt geworden – Assistenzart in Cheyenne. Die Mittlere, unsere Annie, hat einen Kerl geheiratet, der für National Geographic fotografiert. Sie sind bis nach Washington, D.C., gezogen. Dort hab ich einen Enkel. Der Jüngste lebt in Kalifornien und studiert Philosophie. Keine Ahnung, was er da treibt, aber bitte, ganz wie er will. Vor zwei Jahren habe ich meine Susan an den Brustkrebs verloren.«
»Das tut mir sehr leid.«
»Das ist hart, wirklich hart.« Er betrachtete seinen Ehering. »Ich suche immer noch nach ihr, wenn ich morgens aufwache. Hoffe jedes Mal wieder, sie neben mir im Bett liegen zu sehen. Ich fürchte, das wird nie anders werden.«
»Hier, Doc, bitte schön.« Linda-Gail stellte einen Teller vor ihn hin, und beide lachten, als Reece entsetzt darauf starrte. »Er wird das restlos aufessen«, sagte Linda-Gail, bevor sie weitersauste.
Darauf lagen ein Stapel Pfannkuchen, ein Omelett, eine dicke Scheibe Schinken, eine großzügige Portion Pommes und drei Würstchen.
»Sie können das unmöglich alles essen.«
»Von mir kannst du noch was lernen, Kleine. Und jetzt pass auf.«
Er wirkte recht fit, fand Reece, in seinem schlichten Hemd und der warmen Strickjacke. Wie jemand, der sich gesund ernährte und ausreichend Sport trieb. Er hatte ein rotes, schmales Gesicht und aufgeweckte, haselnussbraune Augen hinter dem Drahtgestell seiner Brille.
Und trotzdem fiel er über sein enormes Frühstück her wie ein Fernfahrer.
»Haben Sie Familie an der Ostküste?«, fragte er.
»Ja, meine Großmutter lebt in Boston.«
»Haben Sie das Kochen von ihr gelernt?«
Sie konnte die Augen nicht von seinem Teller abwenden und staunte, wie schnell das Essen verschwand. »Ja, am Anfang schon. Dann habe ich das New England Culinary Institute in Vermont besucht und war anschließend ein Jahr in Paris auf der Cordon Bleu .«
»Culinary Institute.« Der Doc hob die Brauen. »Und dann noch Paris. Schick, schick.«
»Wie bitte?« In dem Moment fiel ihr auf, dass sie in zwei Minuten mehr von sich preisgegeben hatte als sonst in zwei Wochen. »Vor allem ganz schön anstrengend. Am besten, ich mach mich mal wieder an die Arbeit. War schön, Sie kennen gelernt zu haben.«
Reece machte noch die Mittagsschicht. Jetzt, wo sie den Nachmittag und Abend noch vor sich hatte, beschloss sie, einen langen Spaziergang zu machen. Sie könnte um den See herumlaufen und ein paar der Wälder und Flüsse erkunden. Sie könnte Fotos knipsen und sie ihrer Großmutter schicken. Die Bewegung an der frischen Luft würde sie müde machen.
Sie schlüpfte in ihre Wanderstiefel und packte ihren Rucksack exakt so, wie es der Wanderführer für Ausflüge unter zehn Kilometern empfahl. Draußen fand sie einen Fleck in Seenähe, wo sie sich hinsetzen und die Prospekte aus dem Hotel durchlesen konnte.
Wann immer es ging, wollte sie die Zeit nutzen, die Umgebung zu erkunden, den Nationalpark und vielleicht noch ein wenig das Hinterland. Draußen im Freien fühlte sie sich wohler, da war sie nicht so eingeengt.
Sobald sie ihren ersten freien Tag hatte, würde sie einen der einfacheren Wanderwege nehmen und den Berg hochlaufen, um den Fluss zu sehen. Für heute sollte sie lieber mit dem Ausflug loslegen, den ihr Reiseführer vorschlug, und die Wanderstiefel einlaufen.
Sie marschierte gemächlich los. Das war einer der Vorteile ihres jetzigen Lebens. Sie hatte so gut wie keine Eile. Sie konnte sich so viel Zeit nehmen, wie sie wollte, und die Dinge in ihrem eigenen Tempo erledigen. Etwas, das sie sich früher nur selten gegönnt hatte. In den letzten acht Monaten hatte sie mehr gesehen und getan als in all den 28 Jahren davor. Sie mochte ein wenig verrückt sein und mit Sicherheit neurotisch und paranoid, aber es gab Dinge, die sie wieder in
Weitere Kostenlose Bücher