Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
noch die verunglückten Wanderer oder Segler, Bergsteiger, Verkehrsunfälle und so Zeug, wenn die Touristen kommen. So wie’s aussieht, macht er seine Sache gut. Er ist … engagiert – doch, so kann man es nennen.«
»Aber Mord. Mord ist was anderes.«
»Das kann schon sein, trotzdem: Er hat hier die Verantwortung. Und da die Sache außerhalb der Ortsgrenzen passiert ist, wird er die vom Landkreis oder Bundesstaat dazuholen müssen. Sie haben gesehen, was Sie gesehen haben, Sie haben Bericht erstattet und Ihre Zeugenaussage gemacht. Mehr können Sie nicht tun.«
»Nein, mehr kann ich wohl nicht tun.« Genau wie damals, dachte sie, mehr kann ich nicht tun. »Ich glaub’, ich geh dann mal. Danke … für alles«, sagte sie und erhob sich vom Tisch.
»Mehr kann ich leider auch nicht tun. Ich fahr Sie heim.«
»Machen Sie sich keine Umstände. Ich kann laufen.«
»Jetzt stellen Sie sich nicht so an.« Er schulterte ihren Rucksack und verließ die Küche in Richtung Haustür.
Reece griff verlegen nach ihrer Jacke und folgte ihm. Er ging sofort hinaus und ließ ihr nicht die Zeit, sich in Ruhe bei ihm umzusehen. So bekam sie nur einen flüchtigen Eindruck. Alles wirkte sehr schlicht und leicht unordentlich, so wie allein stehende Männer eben leben.
Keine Blumen, kein unnötiger Krimskrams, keine Kissen oder sonst irgendwas Dekoratives im Wohnzimmer, durch das sie gerade liefen. Ein Sofa, ein einzelner Sessel, ein paar Tische und ein steinerner Kamin, der das andere Ende des Zimmers beherrschte.
Erdtöne und klare Linien dominierten den schmucklosen Raum.
»Ich hab Ihnen den ganzen Tag verdorben«, hob sie an.
»Und ob Sie das haben. Steigen Sie ein.«
Sie blieb stehen und empfand eine Mischung aus Gekränktheit, Wut und Erschöpfung. Ihre Dankbarkeit war im Nu verflogen. »Was sind Sie nur für ein unhöflicher, unsensibler, beleidigender Mistkerl.«
Er lehnte sich gegen seinen Wagen. »Sonst noch was?«
»Eine Frau ist heute ermordet worden. Sie wurde erwürgt. Ist Ihnen das eigentlich klar? Sie hat gelebt, und jetzt ist sie tot, niemand konnte ihr helfen. Ich konnte ihr nicht helfen. Ich konnte bloß dastehen und zusehen. Ich konnte nichts tun, genau wie damals. Ich hab gesehen, wie er sie umgebracht hat, und Sie waren der Einzige, dem ich davon erzählen konnte. Anstatt entsetzt und mitfühlend zu sein, sind Sie einfach bloß ruppig, schnippisch und herablassend. Sie können mich mal! Da lauf ich lieber den ganzen Wanderweg noch mal, als mich zu Ihnen in Ihren blöden Angeber-Geländewagen zu setzen. Geben Sie mir meinen verdammten Rucksack zurück.«
Er blieb, wo er war, wirkte aber überhaupt nicht mehr gelangweilt.
»Na endlich! Ich hab mich schon gefragt, ob Sie auch so was wie Temperament besitzen. Geht es Ihnen jetzt besser?«
Sosehr sie sich auch dafür hasste, aber er hatte Recht. Sie ärgerte sich, dass sie seine Gefühllosigkeit derart provoziert hatte, dass sie einen Großteil ihrer Angst und Furcht losgeworden war. »Sie können mich mal!«
»Danke für die Einladung. Doch bis es so weit ist, sollten Sie lieber einsteigen. Sie haben einen Scheißtag hinter sich.« Er hielt ihr die Beifahrertür auf. »Und noch etwas: Männer können gar nicht schnippisch sein. Dazu sind wir rein körperlich gar nicht in der Lage. Kaltschnäuzig trifft es schon eher. Das nächste Mal sollten Sie dieses Wort verwenden. Das passt viel besser.«
»Sie sind wirklich anstrengend.« Trotzdem stieg sie zu ihm in den Wagen.
»Das passt auch.«
Er knallte die Tür zu und ging dann um den Wagen herum zur Fahrerseite. Nachdem er ihren Rucksack auf den Rücksitz geworfen hatte, setzte er sich hinters Steuer.
»Haben Sie irgendwelche Freunde in Chicago?«, fragte sie. »Oder gibt’s da nur Leute, die Sie anstrengend und kaltschnäuzig finden?«
»Sowohl als auch, denke ich.«
»Sollten Journalisten nicht eigentlich ein gewinnendes Auftreten haben, damit sich die Leute ihnen anvertrauen?«
»Keine Ahnung. Schließlich bin ich kein Journalist mehr.«
»Aber Schriftsteller dürfen durchaus mürrische, exzentrische Einzelgänger sein.«
»Kann schon sein. Ich hätte nichts dagegen.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, murmelte sie, woraufhin er lachen musste. Sein Lachen überraschte sie derart, dass sie zu ihm hinübersah. Er grinste immer noch, als sie den See umrundeten. »Soso, Sie Klappergestell. Dass Sie Rückgrat haben, wusste ich schon. Schön, dass Sie auch Zähne zeigen können.«
Doch als er
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