Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
sang.
Es gab auch nette Menschen auf der Welt, ermahnte sie sich. Und Liebe und Freundlichkeit. Es tat gut, wieder ein Teil davon zu sein, es zu spüren.
Und es tat gut zu lachen, als die nächste Darbietende, eine Blondine ohne jede musikalische Begabung, aber mit viel Selbstironie, einen Dolly-Parton-Klassiker verhunzte.
Sie hielt eine ganze Stunde durch und betrachtete den Abend als vollen Erfolg.
Als sie durch die ruhigen Sträßchen zu ihrer Wohnung lief, fühlte sie sich beinahe sicher, fast schon wohl in ihrer Haut. So wohl, wie sie sich schon lange nicht mehr gefühlt hatte.
Und als sie ihr Apartment aufschloss, fühlte sie sich beinahe wie zu Hause.
Nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht, sich davon überzeugt hatte, dass sie wirklich verschlossen war, und einen Stuhl unter die Klinke geschoben hatte, wollte sie sich waschen.
Doch schon in der Tür des winzigen Badezimmers erstarrte sie. Auf der Ablage über dem Waschbecken fehlten sämtliche Toilettenartikel. Sie kniff die Augen zu, aber als sie sie wieder öffnete, war die Ablage immer noch leer. Sie riss die Tür des Arzneischränkchens auf, in dem sie ihre Medikamente aufbewahrte und ihre Zahnpasta. Es war ebenfalls leer.
Ein Wimmern stieg in ihr auf, als sie herumfuhr und sich im Wohnzimmer umsah. Ihr Bett war ordentlich gemacht, so wie sie es am Morgen zurückgelassen hatte. Der Kessel stand auf dem Herd. Aber das Kapuzensweatshirt, von dem sie mit absoluter Sicherheit wusste, dass sie es an die Garderobe gehängt hatte, fehlte.
Und am Fuß des Bettes, statt darunter, lag ihr Matchbeutel.
Ihre Beine zitterten, während sie darauf zulief. Und als sie den Reißverschluss aufriss und ihre Kleidung sorgfältig gepackt darin vorfand, wurde aus ihrem Wimmern ein gedämpftes Schluchzen.
Alles, womit sie hergekommen war, stellte sie fest, als sie den Beutel durchsah. Alles, was sie besaß, ordentlich zusammengefaltet und gepackt. Fertig für die Abreise. Wer konnte das gewesen sein?
Ihre Knie drohten nachzugeben, und sie ließ sich auf die Bettkante sinken. Sie musste der Wahrheit ins Auge sehen. Niemand anders konnte das getan haben. Nicht, seit sie den neuen Türriegel hatte.
Sie musste es selbst gewesen sein. Sie musste das getan haben. Irgendein Instinkt, irgendein Rückfall musste dafür verantwortlich sein. Befahl ihr zu fliehen, abzureisen, weiterzureisen.
Warum konnte sie sich bloß nicht daran erinnern?
Aber das war ja nicht das erste Mal, ermahnte sie sich und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Nicht das erste Mal, dass sie einen Blackout hatte oder sich nicht mehr richtig erinnern konnte.
Aber das war Monate her gewesen.
Sie hatte sich hier fast schon zu Hause gefühlt, dachte sie und versuchte, die Verzweiflung nicht siegen zu lassen. Hatte fast schon geglaubt, hier so etwas wie ein neues Zuhause gefunden zu haben. Obwohl ein Teil von ihr ganz genau wusste, dass sie noch meilenweit davon entfernt war.
Vielleicht sollte sie das als Zeichen nehmen. Sich den Matchbeutel schnappen, zu ihrem Auto gehen und losfahren. Irgendwohin.
Aber wenn sie das tat, war dieses Irgendwo nur wieder ein neuer Ort, an dem sie scheitern würde. Während sie hier wirklich so etwas wie ein Zuhause gefunden hatte, wenn sie nur durchhielt. Sie hatte ein Rendezvous gehabt, sie war mit einer Freundin in eine Bar gegangen. Sie hatte einen Job und eine Wohnung. Wenn sie durchhielt, hatte sie sich hier wirklich wieder so etwas wie eine Identität aufgebaut.
Sie räumte alles wieder dahin, wo es hingehörte – die Kleider, die Zahnbürste, die Toilettenartikel, die Schuhe. Obwohl ihr Magen verrückt spielte, fuhr sie den Laptop hoch. In eine Decke gehüllt, mit der sie die innere Kälte vertreiben wollte, setzte sie sich zum Schreiben hin.
Ich bin nicht davongelaufen. Ich habe heute gekocht und mir meinen Lebensunterhalt verdient. Pete hat sich beim Tellerwaschen in die Hand geschnitten, und das viele Blut hat mich fertig gemacht. Ich bin in Ohnmacht gefallen, aber ich bin nicht davongelaufen. Nach der Arbeit bin ich mit Linda-Gail auf ein Bier ins Clancy’s. Wir haben über Männer geredet, über Frisuren, über all das, worüber Frauen so reden. Im Clancy’s gibt es Karaoke, und die Wände sind mit Köpfen von lauter toten Tieren geschmückt. Mit Schafen, Elchen, Hirschen, sogar mit Bären. Die Leute singen, meist Country und mit unterschiedlichem Talent. Ich hatte den Anflug einer Panikattacke, aber ich bin nicht davongelaufen, und es ist besser
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