Verschollen
das Display, um zu sehen, ob die fragliche Nummer auftauchte. Dazu diese ständige Müdigkeit. Die letzten Nächte hatte er unruhig geschlafen, war bei jedem Geräusch aufgeschreckt. Tagsüber nickte er manchmal im Sitzen ein, wachte aber meist mit einem Ruck wieder auf, das Herz wild hämmernd. Einem inneren Zwang folgend stand er dann auf, wanderte im Haus umher und starrte aus dem Fenster.
Einige Male hatte er dabei Larssons Wagen entdeckt, unten beim Parkplatz, meist bei Einbruch der Dämmerung. Aber er selbst war nirgendwo zu sehen. Sie hatten sich seit dem Morgen, an dem er plötzlich bei ihm aufgetaucht war, nicht mehr gesprochen.
Er nahm Tjarrko an die Leine und ging hinunter zum Fluss. Der Wind war stark. Vor Kälte zitternd zog er den Reißverschluss bis zum Hals hoch, lehnte sich in den Wind und ging vornübergebeugt weiter. Er überquerte die kleine Holzbrücke und starrte in das trübe, dunkle Wasser. Hob dann den Kopf und sah sich um. Fünfhundert Meter weiter waren noch zwei andere Hundebesitzer mit ihren Tieren, die sich ausgelassen jagten und dabei große Kreise zogen. Auch Tjarrko hatte sie entdeckt, die Witterung aufgenommen und zog an der Leine. Aber Nielsen wandte sich in die andere Richtung und ging mit schnellen Schritten über die von niedrigen Büschen bestandene Wiese.
Erst nach mehreren hundert Metern band er Tjarrko von der Leine los und ließ ihn auf eigene Faust schnüffeln. Er zündete sich eine Zigarette an und sah hinauf zur Straße, auf der reger Nachmittagsverkehr vorbeiglitt. Es war fast halb fünf, und die Novemberdämmerung hatte schon eingesetzt. Hier war er so gut wie unsichtbar. Nur eine undeutliche Gestalt und die Glut der Zigarette, sonst nichts. Hier war er sicher.
Er sah sich nach Tjarrko um. Pfiff ein paar Mal nach ihm, drehte sich um und ging langsam zurück. Die beiden anderen Hundebesitzer waren fort. So weit er in der zunehmenden Dunkelheit sehen konnte, war er allein im Tal. Er pfiff erneut, rief nach dem Hund. Wütend fluchte er vor sich hin. Dann blieb er stehen und horchte. Er meinte, Hundegebell zu hören, aber der Laut verschwand sofort wieder.
Mit schnellen Schritten ging er den Weg zurück. Hoffte, dass Tjarrko bereits alleine nach Hause gelaufen sei. Das war schon einmal vorgekommen. Als er die Durchfahrtsstraße überquerte, blieb er noch einmal stehen und sah beunruhigt den Standstreifen entlang. Keine Spur von Tjarrko weit und breit. Rufend und pfeifend ging er den Kiesweg zum Haus hinauf und sah sich aufmerksam um.
Plötzlich erstarrte er. Die Haustür stand offen. Er versuchte nachzudenken. Hatte er vergessen abzuschließen? Das war unmöglich, er schloss immer die Tür ab.
In diesem Augenblick hörte er das Geräusch. Es kam aus dem Inneren des Hauses. Ein halb ersticktes Gebell, das direkt in ein Winseln überging, um dann abrupt abzubrechen. Für eine Sekunde blieb er wie angewurzelt stehen, ehe er zu rennen begann. Er wusste, dass sein Handeln falsch war, dennoch konnte er nicht anders. Er hastete den Kiesweg hinauf, die Treppe hoch und stürzte in den Flur.
Der Hund lag mit verdrehtem Kopf im Wohnzimmer. Eine dunkle Lache wuchs unter seinem regungslosen Körper.
Nielsen machte einen Schritt nach vorne und spürte im selben Moment, wie ihn etwas mit ungeheurer Kraft unterhalb des Knies traf. Sein Bein knickte nach hinten weg, und er fiel kopfüber, ohne eine Möglichkeit sich abzustützen. Er spürte nur noch, wie er mit dem Kopf auf der Türschwelle aufschlug. Einen Augenblick lang blieb er benommen liegen, dann gelang es ihm sich umzudrehen. Das Blut von der Kopfwunde lief ihm in die Augen. Er wischte es panisch ab und versuchte, den Angreifer zu erkennen.
Eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit und kam näher. Verzweifelt kroch er rückwärts, doch er wusste, dass es sinnlos war. Er blieb liegen und sah auf. »Dreckskerl«, sagte er leise. »Feiger Dreckskerl! Komm doch her! Komm her, zum Teufel!«
Der Mann blieb stehen, als würde er zögern.
»Komm schon. Oder traust du dich nicht? Komm doch, dann werde ich dir die Eier aus dem Leib treten!«
Er wollte ihn dazu bringen, etwas zu sagen, ihn ablenken. Um Zeit zu gewinnen und sich so einen winzigen Vorteil zu verschaffen.
»Du hast wohl begriffen, dass jetzt alles zu spät ist, ja? Du kommst nicht weiter. Ich weiß alles über dich, und damit bin ich nicht alleine. Du kannst dich nicht wieder irgendwo verkriechen.«
Für einen kurzen Moment stand der Mann unbeweglich da, dann kam
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