Verschwiegen: Thriller (German Edition)
musste mich setzen.
»Wer ist dieser Patz, über den dein Freund, der Bulle, als Zeuge was erzählt hat?«
Ich war derart verwirrt und aufgebracht, dass ich nicht überlegte und herausplatzte: »Er war’s.«
»Er hat den Jungen umgebracht?«
»Ja.«
»Bist du da sicher?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich hab einen Zeugen.«
»Und mein Enkel soll jetzt dafür büßen?«
»Soll? Nein!«
»Dann mach was, Kleiner. Erzähl mir was über diesen Patz.«
»Was willst du wissen? Er mag kleine Jungs.«
»Er ist ein Kinderschänder?«
»So in der Art.«
»So in der Art? Entweder ist er einer oder nicht, wie kann man eine Art Kinderschänder sein?«
»Genauso, wie du ein Mörder warst, bevor du jemanden umgebracht hattest.«
»Lass das, Kleiner. Ich hab’s dir schon gesagt, du kannst mir nicht wehtun.«
»Hörst du endlich auf damit, mich mit ›Kleiner‹ anzureden?«
»Macht dir das was aus?«
»Ja.«
»Und wie soll ich dich dann nennen?«
»Du sollst mich gar nichts nennen.«
»Irgendwie muss ich dich doch anreden. Wie soll ich sonst mit dir reden?«
»Gar nicht.«
»Du bist ganz schön wütend, Kleiner.«
»Was willst du noch von mir?«
»Von dir will ich gar nichts.«
»Ich dachte, vielleicht einen Kuchen mit einer Feile.«
»Sehr witzig. Mit einer Feile. Weil ich im Gefängnis sitze, ich verstehe.«
»Genau.«
»Weißt du was, Kleiner? Ich brauch keinen Kuchen mit einer Feile, okay? Und weißt du, warum? Weil ich gar nicht im Gefängnis sitze.«
»Ach, hat man dich laufen lassen?«
»Das ist gar nicht nötig.«
»Ach nein? Ich will dir auf die Sprünge helfen, du alter Idiot. Siehst du das große Gebäude mit den Gitterfenstern, aus dem sie dich nicht herauslassen? Das nennt man ein Gefängnis, und du sitzt da auf jeden Fall drin.«
»Nein. Du hast es nämlich noch nicht begriffen. Was man da eingesperrt hat, ist meine Hülle, mein Körper. Ich bin frei und überall, verstehst du? Überall, wo du gehst und stehst, mein Kleiner. Und jetzt kümmere dich drum, dass mein Enkel da nicht reinkommt. Hast du das verstanden, Kleiner?«
»Und warum kümmerst du dich nicht drum, du bist doch überall.«
»Vielleicht tue ich das sogar, vielleicht schaue ich einfach mal vorbei …«
»Ich muss jetzt aufhören, okay? Ich lege jetzt auf.«
»Nein, wir sind noch nicht fertig …«
Ich legte auf. Aber er hatte recht, er war neben mir, ich hatte immer noch seine Stimme im Ohr. Ich nahm den Hörer auf und schmiss ihn ein paarmal auf die Gabel, bis ich diese Stimme nicht mehr hörte.
Jacob und Laurie starrten mich an.
»Das war dein Großvater.«
»Das hab ich mitgekriegt.«
»Ich möchte nicht, dass du mit ihm redest, okay, Jake? Ich meine es ernst.«
»Okay.«
»Selbst wenn er sich bei dir meldet – du redest keinen Ton mit ihm. Leg einfach auf. Hast du das verstanden?«
»Hab ich, hab ich.«
Laurie sah mich wütend an. »Das gilt auch für dich, Andy. Ich will nicht, dass dieser Mann noch einmal hier bei uns anruft. Er ist Gift für uns. Wenn er sich das nächste Mal hier meldet, legst du einfach auf, okay?«
Ich nickte.
»Alles in Ordnung?«
»Keine Ahnung.«
Zweiunddreißigstes Kapitel
Die Abwesenheit von Beweisen
Der fünfte Prozesstag.
Um Punkt neun Uhr stürmte Richter French in den Gerichtssaal und kündigte mit verbissener Miene an, dass dem Antrag der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens nicht stattgegeben wurde. »Der Einwand vonseiten der Verteidigung gegen eine Erwähnung des Großvaters des Angeklagten ist zur Kenntnis genommen und als Einspruch geltend gemacht worden. Ich habe die Jury ausführlich belehrt und denke, das genügt. Der Staatsanwalt wird davor gewarnt, dieses Thema noch einmal zu erwähnen, und dabei wollen wir es bewenden lassen. Wenn es keine weiteren Einwände gibt, dann lassen Sie bitte die Jury hereinführen und anfangen«, so der genaue Wortlaut seiner Rede, die von der Stenografin wiederholt wurde. Sie sprach dabei in ein kegelförmiges Mikrofon, das sie wie eine Sauerstoffmaske über ihr Gesicht hielt.
Überrascht hat mich diese Entscheidung nicht. Es kommt sehr selten vor, dass ein Verfahren eingestellt wird. Es war unwahrscheinlich, dass der Richter ohne Not Staatsgelder einfach so zum Fenster hinauswirft. Zumal das auch seinem Ansehen schadet, denn man konnte es ihm als Schwäche auslegen: Er habe das Verfahren nicht im Griff. Das alles war Logiudice natürlich bekannt. Vielleicht hatte er die Grenze absichtlich überschritten, weil er darauf
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