Verschwoerung der Frauen
– in allen Biographien spielte. Als Anne damals ihren Schlafanzug kaufte, mußte sogar sie einen Moment überlegen, wer er war. Es gab wohl kaum etwas Schlimmeres, als der Sohn eines berühmten Vaters zu sein.
»Ich begleite Sie zu Ihrem Hotel«, sagte Nellie, drehte sich um und ging mit Kate in die entgegengesetzte Richtung. »Sie sind bestimmt müde. Die Zeitverschiebung und alles – das bringt den Körper aus seinem natürlichen Rhythmus. Wollen wir uns morgen weiter unterhalten?«
»Ich habe hier ja sonst wenig zu tun«, sagte Kate. »Eigentlich gar nichts. Ich bin froh, wenn ich so lange wie möglich mit Ihnen sprechen kann. Es stimmt also – Sie haben die Briefe wirklich verbrannt?«
»Ja«, sagte Nellie. »Ich habe sie verbrannt. Alle, an die ich he-rankommen konnte.«
Kate wollte sie fragen, ob sie Annes Memoir gelesen habe. Ob Gabrielle mit Nellie je über ihre Papiere gesprochen habe. Ob Nellie an dem Geld interessiert sei, das möglicherweise damit zu verdienen sei. Aber all diese Fragen mußten bis morgen warten.
»Arbeiten Sie den ganzen Tag?« fragte Kate.
»Ich werde mir den Nachmittag freinehmen. Wir besichtigen die Stadt, und dabei unterhalten wir uns. Das Reden fällt einem leichter, wenn man sich etwas ansieht, finden Sie nicht?«
Kate konnte schlecht einschlafen – fremdes Bett, fremdes Land, befremdliche Situation. Aber Smiley hatte schließlich auch selten 112
genug geschlafen. Psst, psst, psst, sagte sie zu sich selbst. Ganz still!
Le Carré wußte natürlich, daß Christopher Robins England längst untergegangen war – so wie Kates WASP-Amerika –, gottlob, konnte man nur sagen. Aber welcher Mensch beschwor nicht zuweilen, wenn auch ironisch, die gute alte Zeit! Beim Geheimdienst, dachte Kate, steht Rußland gegen Amerika – und bei mir die Männer gegen die Frauen. Wer weiß, welche Parteien sich als erste versöhnen?
Und über dieser Frage schlummerte sie friedlich ein.
Nellie und Kate begannen ihren Nachmittag mit einem Lunch in einem Terrassencafe und betrachteten die vorüberziehende Szenerie.
Zumindest taten sie so, aber nach dem Essen hätte Kate nicht sagen können, ob eine Herde Elefanten vorübergezogen war. Ihr Blick war so auf Nellie fixiert, als könne ihr Gegenüber von einem Moment zum anderen eine völlig andere Gestalt annehmen. In gewisser Weise geschah das auch.
»Emile ist nicht im Krieg gestorben«, sagte Nellie.
Kate starrte sie an. Diese Frau ist über sechzig, mußte sie sich ständig mahnen. Annes Memoir hatte Kate so beeindruckt, daß für sie die drei Frauen irgendwie immer noch junge Mädchen waren.
Und selbst während sie Nellie, die beim besten Willen kein Teenager war, jetzt anstarrte, kam dieses Gefühl nicht ins Wanken. Vielleicht kommt das daher, sagte sich Kate, daß Dorinda und in gewisser Weise auch Nellie mir nicht vorkommen, als blickten sie ihrem Le-bensabend entgegen, sondern als begännen sie ihr Leben noch einmal von vorn, nun, nicht gerade von vorn, aber als gäben sie ihm eine neue Richtung. Dorinda hatte es ja selbst mehr oder weniger so ausgedrückt. Aber Emile, dachte Kate und rechnete schnell nach, mußte mindestens dreiundachtzig sein, vorausgesetzt, er lebte noch.
Eine gewagte Annahme.
»Hat ihn in letzter Zeit jemand gesehen?« fragte Kate.
»Nein, in letzter Zeit nicht«, sagte Nellie. »Emile starb vor einigen Jahren. Aber ich habe ihn ungefähr zehn Jahre nach seinem Verschwinden getroffen. Als ich in London war, um Gabrielle zu besuchen – nach Dorindas Hochzeit. «
»Wußten Sie vorher schon, daß er noch lebte?«
»Keine von uns wußte etwas Genaues. Er war fortgegangen, um sich der Résistance anzuschließen. Das war um die Zeit, als ich nach Amerika ging. Zumindest nahmen das alle an. Vielleicht sollten wir das ja auch. Kurz danach bekam Gabrielle noch ein oder zwei Briefe von ihm – ja, auch die habe ich verbrannt-, und 1942 starb mein 113
Großvater. 1944 bekam Gabrielle einen Brief von einem Mann, der behauptete, Emile sei bei einem Überfall auf den Bauernhof, wo er sich versteckt hielt, ums Leben gekommen. Der Briefschreiber fügte noch hinzu, er habe einige von Emiles persönlichen Dingen und würde sie Gabrielle schicken. Falls er nicht überleben sollte, sei dafür gesorgt, daß sie ihr nach dem Krieg zukämen. Er überlebte, und nach dem Krieg erhielt Gabrielle ein Päckchen mit Emiles Uhr, einem Babyfoto von mir, das er immer bei sich trug, und ein paar anderen Dingen. Ich glaube, Emile
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