Verschwörung in Florenz
Wasserleiche. Ekel stieg in ihr auf, und sie musste all ihre Willenskraft aufbieten, um nicht so unhöflich zu sein und Giacomo ihre Hand wieder zu entziehen. Dabei brauchte sie vor diesem netten Mann nun wirklich keine Angst zu haben.
Trotzdem glaubte sie den kalten Kuss immer noch auf ihrer Haut zu spüren, selbst als die Kutsche bereits vor Giulianos Haus hielt und Matilda und Enrico sie empfangen hatten.
Die scharlachroten Buchstaben
Unruhig wälzte sich Anne in ihrem Bett von einer Seite zur anderen. Sie konnte nicht schlafen, ihre Gedanken wirbelten wie sturmgepeitschtes Herbstlaub durch ihren Kopf. Immer wieder dachte sie an das Gespräch im Hause der Pazzi. Sie dachte an die Gefahr, in der Giuliano schwebte, sie dachte an Cosimo, und sie dachte an Giacomo de Pazzi. Im Schein des Kaminfeuers in der Bibliothek der Pazzi hatte sie jedes seiner Worte geglaubt. Doch jetzt, in der Wärme ihres eigenen Zimmers, in der lebendigen Frische von Giulianos Haus, fern von jeder düsteren Stimmung, fiel es ihr zunehmend schwerer. War Cosimo wirklich so ein Scheusal, ein Dämon? War er wirklich so schlecht, dass er es fertig bringen konnte, seinen eigenen Vetter zu töten? Hatte Cosimo nicht selbst gesagt, dass er Giuliano möge? Natürlich war Cosimo anders als andere Männer seiner Generation. Er war ein Zyniker, Höflichkeit war für ihn ein Fremdwort. Doch trotz aller Beleidigungen, die sie bisher aus seinem Mund vernommen hatte, hatte er sich doch nie hinterlistig und verschlagen gezeigt. Im Gegenteil. Er nahm kein Blatt vor den Mund und war ehrlicher und offener, als es die meisten Menschen ertragen konnten. Doch wie passte das alles zusammen? Konnte Cosimo sich so gut verstellen? War auch seine Offenheit nichts weiter als ein Teil seiner undurchschaubaren Maske, hinter der sich ein gefährlicher Intrigant und wahnsinniger Mörder verbarg?
Giacomo – Cosimo. Zwei Freunde. Der eine war nett, zuvorkommend, unauffällig, eine Stütze der Gesellschaft. Der andere hingegen war unhöflich, zynisch, extravagant. Wem sollte sie nun trauen? Eigentlich sollte sie sich diese Frage gar nicht stellen, sofern sie noch bei Verstand war. Doch daran begann sie allmählich zu zweifeln, denn irgendein Teil von ihr fühlte sich zu Cosimo hingezogen. Ein Teil von ihr wollte nicht glauben, dass er tatsächlich der Schurke war, für den ihn alle hielten. Ein Teil von ihr sah nicht ihn, sondern Giacomo in der Rolle des Schauspielers, der alle Register seines Könnens zog, um seine Umwelt zu täuschen und zu belügen. Ausgerechnet der nette, höfliche und strenggläubige Giacomo. Das war doch wirklich verrückt!
Anne drehte sich wieder auf die andere Seite und legte ihren Arm unter den Kopf. Vielleicht sollte sie Cosimo besuchen, mit ihm sprechen, seine Version der Geschichte der unglücklichen Giovanna de Pazzi hören. Nur so, zum Vergleich. Nur um zu hören, was er zu sagen hatte, wie weit seine Darstellung der Ereignisse von der Giacomos abwich. Und ob es für seinen Besuch in Giovannas Zimmer am Tage ihres Todes vielleicht doch eine plausible Erklärung gab. Danach konnte sie immer noch entscheiden, wem sie vertrauen wollte. Es war alles so verwirrend. Sie wusste nicht mehr, wem oder was sie glauben sollte. Der Böse war zu böse und der Gute zu gut, um wahr zu sein. Schwarz wurde zu Weiß und Weiß zu Schwarz. Alles vermischte sich. Und was eigentlich bisher gut erschienen war, erwies sich nun als abgrundtief schlecht, böse und dunkel. Dunkel, so wie jetzt, als sie endlich in den Schlaf hinüberglitt.
Anne stand in einer Kathedrale. Es war Sommer, das wusste sie genau, denn draußen jenseits des Portals, dass sich nur langsam und unter protestierendem Quietschen hinter ihr schloss, flirrte die Luft vor Hitze. Sie war allein in der Kathedrale, allein mit den Heiligenstatuen, den brennenden Opferkerzen, dem ewigen Licht hinter dem Tabernakel. Es war still, nur ihre eigenen Schritte hallten von den Wänden wider. Anne wusste nicht mehr, weshalb sie diese Kirche aufgesucht hatte. Wollte sie beten? Wohl kaum, sie war nicht besonders religiös. Oder gab es hier eine Sehenswürdigkeit, ein Gemälde oder eine Skulptur eines bekannten Künstlers, die sie sich anschauen wollte? Es fiel ihr nicht ein. Und es war auch niemand da, den sie hätte fragen können. Die Hitze hatte alles Leben in den Schutz der Häuser und klimatisierten Bars vertrieben. Aber es störte sie nicht, dass sie allein war. Sie hatte Zeit. Wahrscheinlich hatte sie
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