Verschwörung in Florenz
der Spiegel zum Einsatz. Wollen Sie auch mal einen Blick hineinwerfen? Natürlich kostenlos.«
Arianna zog den Spiegel aus einer Hülle aus altem abgewetztem rostbraunem Samt und hielt ihn Anne entgegen. Zögernd nahm sie ihn und drehte ihn vorsichtig in ihren Händen. Da ihre Mutter in Hamburg ein Antiquitätengeschäft besaß und sie während ihrer Schul- und Studienzeit immer wieder dort ausgeholfen hatte, um ihre Haushaltskasse aufzubessern, kannte sie sich ein wenig mit antiken Gegenständen aus. Und dieser ovale Handspiegel, der aussah, als wäre er direkt einem Grimm’schen Märchen entstiegen, war ohne Zweifel sehr alt. Er war aus einem schön gemaserten Holz gefertigt, das ursprünglich bemalt gewesen war. Jetzt war die goldene Farbe weitgehend abgeblättert, und der Griff mit den feinen Schnitzereien war blank gescheuert von ungezählten Händen, die ihn im Laufe der Jahrhunderte gehalten hatten. Die Glasperlen, die wohl einst am Rahmen, im Griff und auf der Rückseite eingearbeitet gewesen waren, waren zum Teil zersplittert oder fehlten ganz. Trotzdem war er traumhaft schön. Und seine Oberfläche war noch immer erstaunlich blank. Nur am Rand zeigten sich einige kleine Rostflecken.
Vielleicht 15. Jahrhundert, schätzte Anne, vielleicht sogar noch älter. Ohne Zweifel ein kostbares Stück.
Anne hielt den Spiegel so, dass sie ihr Gesicht darin sehen konnte.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?, dachte sie und lächelte amüsiert ihrem leicht verzerrten Spiegelbild zu. Es war natürlich nicht zu erwarten, dass die Oberfläche so eben wie bei den industriell gefertigten Spiegeln der Gegenwart war. Dennoch war die Qualität des Abbildes viel besser, als sie erwartet hatte. Sie hätte ihn sogar ohne weiteres als Schminkspiegel benutzen können. Noch während sie sich betrachtete und ihr Makeup überprüfte, geschah es – die Konturen ihres eigenen Gesichts verschwammen. Und wie aus den Tiefen eines Sees tauchten plötzlich andere Gesichtszüge auf. Sie wurden immer deutlicher, bis sie sich selbst nicht mehr sah, sondern stattdessen das Gesicht eines jungen Mannes mit dichtem dunklem gelocktem Haar und fröhlichen braunen Augen. Anne war so überrascht, dass der kostbare Spiegel ihr beinahe aus der Hand geglitten wäre.
Da steckte doch bestimmt ein Trick dahinter. Sie drehte den Spiegel hin und her, um den Mechanismus zu finden, mit dem sie das Bild des jungen Mannes hervorgeholt hatte. Aber sie fand nichts, keinen Knopf, keinen Hebel, keine Schraube. Und als sie wieder hineinschaute, sah sie nichts als ihr eigenes Gesicht. Ob es etwas mit Körperwärme zu tun hatte? Ein Bild, das erst auftauchte, wenn die Spiegeloberfläche eine bestimmte Temperatur erreicht hatte?
»Wie alt ist der Spiegel?«
»Das weiß niemand so genau«, antwortete Arianna. »Ein Historiker sagte mir mal, er stamme wohl aus dem 13. Jahrhundert. Er kann aber durchaus auch älter sein.«
Das ist unmöglich, dachte Anne und schüttelte den Kopf. Im 13. Jahrhundert kannte man thermosensible Farben noch nicht. Die Frau flunkert mich an.
Arianna lächelte. »Ich vermute, Sie haben etwas gesehen, das Sie nicht erwartet haben?«
»Ja, in der Tat«, sagte Anne und versuchte ruhig und gelassen zu erscheinen. Sie gab Arianna den Spiegel zurück. »Es ist wirklich verblüffend. Da war tatsächlich das Gesicht eines jungen Mannes. Ich vermute, dass alle Mädchen der vergangenen Jahrhunderte dasselbe Gesicht gesehen haben wie ich. Allerdings komme ich nicht dahinter, wie das funktionieren soll. Können Sie mir den Trick verraten?«
Arianna schüttelte den Kopf. »Der Spiegel, Signora, zeigt immer nur das Gesicht des Zukünftigen. Und das ist selbstverständlich jedes Mal ein anderes.« Sie steckte den Spiegel wieder in sein verschlissenes Futteral und legte ihn zurück in den Korb – sanft und liebevoll, als würde sie ihn streicheln. »Sie müssen Verständnis dafür haben, dass ich Ihnen nichts Näheres darüber erzählen kann. Es ist ein Familiengeheimnis.«
Sie ist wie der Zauberer, der seinen Trick nicht preisgeben will, dachte Anne. Doch für jeden Zaubertrick gibt es letztlich eine ganz natürliche Erklärung. Man muss nur ein wenig nachdenken. Oder versuchen, den schweigsamen Zauberer mit den Tricks der Journalisten zum Sprechen zu bringen.
»In Hamburg arbeitet ein Zauberkünstler mit einem ähnlichen Trick in einem Varieté. Sein Spiegel ist mit einer zweiten Oberfläche beschichtet,
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