Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Rosmarinsträußchen bei sich, an dem sie von Zeit zu Zeit mit ausgesuchter Geste schnupperte.
Diese Ordnung hatte von jeher geherrscht. Es galt als eine ungeschriebene Regel, dass als Erstes die Männer eintraten und dann die Gruppe der Presbyter. Hernach pflegten die Frauen einzuziehen, und ihnen folgte die Schar der unverheirateten Burschen, die auf die Empore hinaufstiegen, wo sich die Orgel befand. Erst wenn all die Genannten ihren Platz eingenommen hatten, durften die Mädchen hereinkommen. Die Orgel ertönte von neuem; der Kantor intonierte, und der zweite Gesang setzte ein, nicht nur oben, wo, in dichtem Gedränge, die Mitglieder des Kirchenchors sangen, sondern auch unten in den Reihen der Gemeinde.
Recht rohe Stimmen sind es, allerdings, dachte Bálint, manch eine entgleist denn auch. Aber sie singen mit Glaubenseifer. Die Urchristen müssen so gesungen haben …
Nachdem das Gebet zu Ende war und der Pfarrer das biblische Zitat, die Grundlage seiner Kanzelrede, vorgelesen hatte, begann er die Predigt. Er war ein alter Mann von altmodischer Redeweise. Die erste Silbe der Wörter zog er in die Länge, und das, was er sagte, hatte Bálint schon einige Male gehört, die Gläubigen noch häufiger, aber vielleicht war es gut so, weil sie die Mahnungen auf diese Weise besser verstanden und beherzigten, als wenn er ihnen unerwartet etwas ganz Neues erzählt hätte. Dasselbe Gleichnis kehrte auch wieder, das er bei solcher Gelegenheit zu benutzen pflegte: vom Samenkorn, das auf fruchtbare Erde fällt …
Glänzende Sonnenstrahlen fielen in die Kirche. Winzige Staubkörnchen tanzten in den Lichtgarben, die hier und dort einzelne Farben an den bunten Taschentüchern der Mädchen entzündeten, das ergrauende Haar eines alten Bauern silbern bestreuten, die kupferroten Backenknochen eines anderen flammend überzogen, indes sie die Luft mit glänzendem Dunst erfüllten. Blendend weiße Mauern – als wären sie von Milchrahm bedeckt. An manchen Stellen, die man während der Jahrhunderte immer wieder blitzblank gereinigt und erneuert hatte, war der Kalkverputz bis zu drei Finger dick, er rundete jede Härte ab, die Kanten der Gewölbe, die Ecken und die vorspringenden Deckplatten der Säulenkapitelle.
Bálint war die uralte Kirche wohl noch nie so schön erschienen. Er musterte sie, wie zuvor schon so oft. Drei halbkreisförmige Bögen spannten sich auf der gegenüberliegenden Seite, sie begannen bei der Orgel-Empore; zweimal stützten sie sich auf gedrungene, byzantinisch gestaltete Säulen, bis dann der dritte, der entfernteste – ihm gegenüber, über den Bänken der Mädchen – sich neben dem Zugang zum Chor, der Porta triumphalis hinter der Kanzel, in ein Steingesims senkte. Das war so geblieben seit dem zwölften Jahrhundert, da man das Gotteshaus, damals natürlich als katholische Kirche, erbaut hatte. Eine Urkunde war zwar nicht erhalten geblieben, aber über die Entstehungszeit gab es keinen Zweifel.
Es war eine der nicht drei-, sondern zweischiffigen Kirchen, die aus einem Haupt- und einem Seitenschiff bestehen, für die Zeit Bélas III. 62 charakteristisch sind und nur bei uns in Siebenbürgen vorkommen. Der Triumphbogen der Apsis, die Säulen und die Wölbungen stammten aus dieser Periode. Sonst war seitdem freilich viel geschehen. Während des Mongolensturms 63 brannte die Kirche wohl aus, und nur ein Teil der gemeißelten Steine der Außenmauer blieb erhalten; den Rest trug man größtenteils ab – vermutlich waren die Steine im Feuer geborsten. Deswegen wird man auch das Haupttor zugemauert und ein neues angelegt haben. Letzteres war schon frühgotisch, ebenso wie die Strebbögen, die es umgaben. Und dann vergingen wieder Jahrhunderte, die Reformation kam, für welche die Predigt das Hauptelement des Gottesdienstes bildet. Da bekam die Kanzel neues Gewicht. An die Stelle des Altars ließ sie sich freilich nicht setzen, da aus der großen Entfernung nicht einmal die Hälfte der Gemeinde die Worte gehört hätte; man verlegte sie also nach vorn, indem man sie an die Säulen des Portals anlehnte. Ihre in Stein gemeißelten Verzierungen folgten schon Formen der Spätrenaissance.
Und der Geschmack veränderte sich abermals. Die Elemente über dem Baldachin und die Orgel entstammten dem Rokoko. So war die Kirche gewachsen, so hatte sie sich verändert, viel Altes aus der Zeit des Ursprungs behalten und sich zugleich den Erfordernissen und Schönheitsidealen neuer Zeiten angepasst; sie war gewachsen und
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