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Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)

Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)

Titel: Verschwundene Schätze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miklós Bánffy
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der Spross einer Familie so und beruft man ihn zur Übernahme einer Rolle oder einer Würde, die für das ganze Land von Bedeutung ist, dann wird er überzeugt sein, dass die von ihm erlangte Stellung ihn nicht größer gemacht hat, als er ohnehin schon ist, und dass er nicht kleiner wird, sollte er sie verlieren. Er meint nicht, dass man sich wegen seines Genies an ihn gewandt hat, sondern bleibt sich bewusst, dass seine Abstammung als Gegebenheit der Hauptgrund ist, da es doch so weit in der Struktur der ungarischen Gesellschaft liegt, führende, hohe Ämter Hochadeligen anzuvertrauen. Solche Denkweise verleiht uns Kraft auch dann, wenn wir wegen allfälliger sittlicher Bedenken auf eine Machtposition verzichten oder sie anzunehmen uns weigern. Dies zu tun fällt uns leicht, denn nach eigener Einschätzung wären wir nicht mehr wert, wenn wir das Amt behalten oder annehmen würden, nein, wir wären weniger wert, sollten wir zusagen und dabei unser Gewissen beschwichtigen. Und hierin liegt der höhere Sinn des ›noblesse oblige‹.«
    Gewiss hatte an dieser Stelle Bálints Mutter etwas eingeworfen, aber ihr Sohn erinnerte sich einzig an die Worte des Großvaters. Diese freilich waren ihm so klar im Gedächtnis geblieben, als spräche er heute. Hernach war der Großvater für eine kurze Weile verstummt. Vielleicht blickte er auf Vergangenes zurück. Vielleicht dachte er an Dinge, über die er niemals sprach.
    Franz Joseph hatte ihn, ohne ihn anzufragen, nach dem Erlass des Oktoberdiploms 1860 zum Mitglied des Reichsrats ernannt. Die Urkunde wurde ausgestellt und ihm zugeschickt. Péter Abády wies aber die Ernennung in einem Brief zurück. Beide Dokumente lagen in Dénestornya im Archiv. Bálint hatte sie dort entdeckt. Der Herrscher zürnte ihm deswegen dermaßen, dass er bis zum Ausgleich 1867 auf der Liste der verdächtigen Rebellen stand. Danach allerdings war sein Ansehen beim König umso größer.
    Der alte Herr schwieg und lachte schließlich leichthin. Er legte die Hand auf die Schulter des Jungen. Sie waren bereits bei den Stufen des steinernen Vorbaus angelangt.
    »Solltest du aber von Geburt an hoffärtig sein, mein Sohn, was mich nicht verwundern würde«, so hob er wieder, jetzt schon ein wenig spöttisch, an, und sein Blick streifte das Gesicht der Schwiegertochter, »dann setze deinen Stolz darein, mit Leib und Seele vorzüglicher, ausdauernder und arbeitswilliger zu sein als irgendein anderer, damit du von dem, was in dir steckt, mehr und das Wertvollste verwirklichst. Wenn du tatsächlich glaubst, dass deine Herkunft dich dazu befähigt, härter zu arbeiten und besser zu dienen als andere, dann wird dies auch wahr werden, denn der Glaube ist eine gewaltige Kraft, und es ist ganz gleichgültig, woraus er sich nährt.«
    Dies hatte der Großvater gesagt über die Kirche, welche mit Stein, Holz und Inschriften von der Vergangenheit ihrer Familie sprach. Das war seine Lehre. Wie schön es doch wäre, das seinem Sohn weiterzugeben, den ihm Adrienne schenken wird. In fünf bis sechs Jahren könnte er schon mit ihm zusammen da in der Bank sitzen. Er gab sich der Vorstellung mit solcher Kraft hin, dass er geradezu schon glaubte, sein Sohn sei neben ihm. Die Mutter hätte ihren Platz auf der Kanzelseite, so wie jetzt, Adrienne wäre neben ihr, er selber – wie diesmal – näher zur Versammlung, und zwischen ihnen beiden säße der kleine Ádám, ihr ersehntes, erträumtes Kind, die Krönung ihrer Liebe. Er, über den sie, wenn sie irgendwo beisammen waren, immer häufiger sprachen und den sie in ihren langen, gegenseitigen Briefen so erwähnten, als wäre er schon auf der Welt; spaßhafte und närrische Einzelheiten beschrieben sie, sein schwarzes, lockiges Haar, das er von Adrienne geerbt habe, ein Muttermal, das sich, genau wie bei Bálint, auf seiner Schulter befinde, darüber, wie er bei seinen Fragen den Kopf hochzuwerfen pflege, welche Miene er mache, wenn er schweige – dies alles über den Jungen, der gewiss jeden in dieser Welt überflügeln werde.
    Der Pastor, am Ende seiner Predigt angelangt, sprach das Amen aus. Die Gemeinde erhob sich zum Schlussgebet. Auch der Pfarrer oben richtete sich auf und faltete die Hände. Er legte den Kopf zurück und blickte zum Himmel, sodass man von unten, aus der Nähe, nur sein leicht borstiges Doppelkinn und seinen gewaltigen Schnurrbart sah. Zwar dehnte er die erste Silbe stets künstlich, und seine Stimme klang ein wenig knarrend, aber das, was er sagte, war

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