Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Augenblicks auf diese oder jene Seite. Stimmungen dieser Art beherrschten den Korridor und dadurch das ganze Land.
Die Gruppen und der Korridor – als wäre das Parlament auf diese Grundlage gestellt.
Der Korridor umgab den Sitzungssaal auf vier Seiten. Überall war er recht breit. Lange Diwane standen im Abstand von zehn Schritten. An den Ecken, bei der Pressetribüne und beim Treppenausgang boten mannigfache Nischen Gelegenheit, sich um einen Diwan im Kreis Gleichgesinnter zu versammeln und den Belehrungen, Verdächtigungen oder den Besorgnissen eines der Häuptlinge zu lauschen. Zwischen den dunklen Säulen im Gesellschaftsraum ließen sich vertrauliche Nachrichten flüstern, Anweisungen übernehmen, und wenn jemand Wert darauf legte, unter größter Geheimhaltung zu wirken, dann empfahl sich die menschenleere Kuppelhalle; was dort hinter den hohen Rückenlehnen der Kanapees auch immer geschah, niemand würde es je erfahren. Die massiven Vorhänge an den Türen verschluckten jeden Laut; es fiel leicht, hinter ihnen zufällig zusammenzutreffen und mit rasch gewechselten Worten die Samen künftiger Gewitter auszustreuen – eine Handlung, zu der sich niemand bekannte, die aber, wenn jemand dagegen aufkommen wollte, einen ganzen Mann erforderte.
Das Abgeordnetenhaus führte in dieser Koalitionszeit sein politisches Leben tatsächlich im Korridor. Es war ein sonderbares, zwitterhaftes Leben, nicht die Normalität des Parlamentarismus: eine seltsame Mischung, etwas zwischen der Verantwortungslosigkeit und der Leidenschaft von Volksversammlungen und der berechnenden Geheimniskrämerei von Kamarillen. In großer Zahl zogen die Abgeordneten nur bei ganz besonderen Gelegenheiten in den Ratssaal; die Sitzungszeit verbrachten sie zumeist draußen, wo alle Nachrichten anlangten und wo man diskutieren und einzelne Mitglieder der Regierung nach Belieben heruntermachen konnte. Jetzt, Ende September 1908, als sich die Abgeordneten zur Session versammelten, lohnte es sich wirklich, den Korridor entlangzuspazieren und gelegentlich stehen zu bleiben.
Drinnen erhoben sich abwechselnd die Protokollführer und lasen langwierige Akten über die Formalitäten der Sessionseröffnung vor, Texte, die auf der Stelle in die ewige Unbekanntheit versanken. Im Korridor aber bot sich währenddessen eine Auswahl von aufregendsten Themen.
Da fand sich mancher Stoff für feine Debatten. Als eines der Themen etwa galt, dass István Tisza kaum eine Woche zuvor seine Stimme in Bihar gegen eine selbständige Notenbank erhoben hatte, indem er auf nationalökonomische Nachteile hinwies, auf den Zusammenhang zwischen dem Wert der Währung und dem Zinssatz. Er hatte viele starke Argumente angeführt und eine fachmännische Folgerung geliefert.
Die Öffentlichkeit, für welche es bei der Bankenfrage schließlich um den eigenen Geldbeutel ging, stutzte ein wenig. Selbst im Lager der Unabhängigkeitspartei fand sich manch ein Kleingläubiger, den nach der Lektüre der Rede Zweifel befielen. Welch ein Glücksfall, dass sich kurz darauf ein viel bedeutenderer Sachverständiger zugunsten der Bank aussprach!
Es war kein Politiker, sondern ein echter Bankier, dessen Ansichten – nicht wahr? – viel eher die Richtung wiesen als Tiszas Auffassung: »Tisza ist am Ende bloß ein Politiker und ohnehin ein Gegner der Koalition, während dieser da von Berufs wegen ein richtiger Bankfachmann ist! Und seht, wie sehr er Tisza als Ungar überbietet!«
Die zugunsten der Notenbank verfassten Artikel des Bankiers wurden im Korridor freudig abgehandelt. Man besprach, wie klug er sich äußere, ferner dass er ein interner Mann Rothschilds sei und dass er sich zwischen den Zeilen bescheiden anerbiete, den Plan zu verwirklichen. Er wäre sogar imstande, das nötige Geld aufzutreiben! Welch vorzüglicher Mann! Die unabhängige Bank, allerdings, so sage er, werde auf jeden Fall mit einem höheren Zinssatz arbeiten, aber ist das etwa ein Hindernis? Ach, keineswegs! Und in der Gruppe um Holló führte man schon eifrig den Beweis, dass die leichte Zinsverteuerung später doch wieder verschwinde, denn selbst wenn die Zinsen höher sein sollten, so werde sich das Geld trotzdem verbilligen. Warum? Weil die Vermittler entfallen. Darum also!
Wunderbar. Wer mit »Vermittlern« gemeint sei, die österreichische oder die Budapester Bankenwelt, danach fragte keiner. Ebenso wenig wollte man hören, was die Gegner der selbständigen Bank sagten, Andrássy und andere von der
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