Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Stellvertreter immer wieder attackiert hatte, sodass sie nun selbst in Zagreb schon durch Detektive bewacht wurden.
Auch über die Wahl des serbischen Patriarchen von Karlóca fiel kein Wort, dabei musste dem Gewählten die königliche Bestätigung zweimal verweigert werden, bis man sich endlich zur Wahl eines Patriarchen bequemte, der dem Staat annehmbar erschien.
All dies waren Geschehnisse im eigenen Umkreis oder in der Nachbarschaft. Den Nachrichten aus dem Ausland maß man erst recht nur die Bedeutung eines Panoramabilds zu, das zu betrachten interessant sein mochte, das aber eh niemand für die Realität hielt. »Jawohl, die britische Kriegsflotte hat Reval besucht.« »Oh, tatsächlich?« »Das ist die demonstrative Betonung der englisch-russischen Versöhnung.« »Ach so. Wirklich?« »Bulgarische Truppen haben die internationale Eisenbahnlinie unter ihre Kontrolle gebracht. Warum wohl?« »Sie wollen doch nicht etwa mit den Türken anbändeln?« »Ach wo! Dächte Fürst Ferdinand an Krieg, so reiste er doch nicht in Europa herum, er soll gerade morgen bei uns zu Besuch ankommen.«
Die englischen Zeitungen berichteten immer häufiger, dass »Österreich« Bosnien annektieren werde.
»Was für dummes Zeug! Erstens ist das nicht Sache von Österreich allein, da entscheiden Österreich und Ungarn. Und wenn die dämlichen Engländer nicht einmal so viel wissen, was kann es wert sein, was sie sonst noch kritzeln? Und überhaupt, wer denkt an derartiges? Du etwa? Nein, natürlich nicht, auch ich nicht und auch sonst niemand. Und überall herrscht Frieden. Aehrenthal hat sich in Buchlau mit Iswolskij getroffen, und wir bekamen ein höchst beruhigendes Kommuniqué zu lesen. Also warum machen da die englischen Zeitungen solche Umstände?«
Wer sich am Morgen des 22. September im Korridor des Parlaments aufhielt, dem bot sich die Wahl unter diesen Themen. Er durfte jedes auf jede Art behandeln: frohgemut oder zornig, laut oder im Geheimen, wie es ihm gefiel, er fand in jedem Fall zustimmende Zuhörer, vorausgesetzt, dass er sich an den von uns skizzierten Gedankenkreis hielt.
Denn der ungarische Politiker ist von sehr selbständiger Denkweise, er mag es aber nicht, wenn jemand selbständig denkt.
Gegen Mittag lief aber die Nachricht durch den Korridor, Andrássy sei angekommen und erteile auf der Präsidiumsseite einigen gewichtigen Männern der Unabhängigen Auskünfte über die Wahlrechtsreform. Mit einem Mal schwand alles andere dahin, und die bisher weit aufgefächerte Aufmerksamkeit konzentrierte sich nun auf diesen einen Punkt. Jedermann eilte, um Neues zu vernehmen. Selbst die Verspäteten, die wegen der Ansammlung nicht mehr in Hörweite kamen, durften sich freuen, da ihnen Andrássy das Gefühl vermittelte, er habe dem Korridor die Ehre erwiesen; er erkenne ihn gewissermaßen als einen politischen Faktor an, indem er seinen bisher geheim gehaltenen Standpunkt als Erstes hier erläutere.
Kein Zweifel, Gyula Andrássy handelte klug, als er diese unmittelbare Form der Unterhaltung wählte, um seinen Vorschlag in großen Linien bekanntzumachen. Mit ungezwungenen Worten lässt sich die Stimmung viel eher beeinflussen als innerhalb der mehr oder minder stets gebundenen Formen einer offiziellen Ansprache. So stand er nun Auge in Auge denen gegenüber, die in ihren Artikeln an dem noch gar nicht bekannten Vorschlag zwar verhüllt, aber doch schon herumgekrittelt hatten, er konnte auf Einwürfe und Einwände gleich antworten und in vertraulichem Ton auch Einzelheiten nennen, die besser nicht ins Protokoll kamen.
Wenn seine Gegner überhaupt zu überzeugen waren, dann bestimmt auf diese Weise. Dies umso eher, als man an Andrássys Vortrag spürte, wie sehr er nach eigener Meinung das Beste wollte. Er stand in der Mitte der Menge, die sich um ihn drängte. Es schien, als werde seine überaus magere, zerbrechlich wirkende Gestalt einzig durch die Kraft der Überzeugung und den Willen zusammengehalten, als müsste er ohne diese Eigenschaften gleich zusammenbrechen. So hatte die spanische Schule – Zurbarán, El Greco – einst die asketischen Heiligen dargestellt, mit solch dünnem Christusbart, solchen Händen mit dürren, länglichen Fingern, in denen Andrássy anstelle des Kruzifixes eine wuchtige Havannazigarre hielt, mit so blassem Antlitz, aus dem der Fanatismus überdimensionierter Augen strahlte.
Seine Sprechweise passte zu diesem Äußeren. Sie war das Gegenteil der Beredsamkeit. Die Zuhörer bekamen
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