Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Unverzüglich. Sie wolle Absolon nach Almáskő rufen und ihm einen Brief zustellen, in dem sie ihre Scheidungsabsicht erkläre. So werde ihn ein verlässlicher Mann Uzdy übergeben. Sie selber fahre nach Mezővarjas. Der alte Herr werde erst nach ihrer Abreise auftreten. Bálint jedoch müsse in Budapest bleiben, sich nicht wegrühren und dürfe auch keine einzige Zeile schreiben. Und sich nicht bedanken, das würde sie nicht ertragen. »… denn worauf ich mich jetzt einlasse, ist ein tollkühnes Spiel, was ich tue, tue ich für mich, nicht für Dich allein. Auf mich soll alles zurückfallen, wenn es zur Katastrophe kommt …«
Nur so könne es gelingen, vielleicht schaffe man es so. »Über alles Wichtige werde ich Dich unterrichten. Beunruhige Dich aber nicht, es könnte zehn bis zwölf Tage dauern, womöglich sogar länger, bis ich Dir berichten kann.«
Ein kurzes Postskriptum stand am Ende des Briefs: »Uzdy scheint sich gegenwärtig etwas stiller zu verhalten.« Dann folgte ein einziges Wort: »Vielleicht??«
Sie hatte das Wort zweimal unterstrichen.
V.
Vielleicht??
In den zehn Buchstaben und im doppelten Fragezeichen verdichtete sich Adriennes schwerer seelischer Kampf, den sie nach Dr. Kischs erstem Besuch nun schon seit drei Monaten führte.
Erst allmählich erhellte sich vor ihr die Bedeutung der wenigen Sätze, die der sächsische Arzt mit solchem Nachdruck ausgesprochen hatte. »Der Sohn belasteter Eltern … latenter Erregungszustand … eine heftigere Erschütterung könnte eine ernsthafte Krise auslösen …« Dies hatte er damals gesagt und später, als er sie Anfang September zum zweiten Mal besuchte, ebenso wiederholt. Der Sinn wurde ihr nach und nach bewusst.
Sollte sich ihr Mann an der Grenze zur Geisteskrankheit befinden? Oder bereits geistesgestört sein?
In ihrer seit zehn Jahren dauernden Ehe hatte sie ihn in Gedanken oft als »verrückt« bezeichnet, dies aber nicht in der medizinischen Bedeutung des Worts. Dass Uzdy dem Wahnsinn verfallen könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen. Nie hatte sie ihn aus diesem Blickwinkel beobachtet. Jetzt aber musste sie mit dieser Möglichkeit rechnen, als Schreckgespenst stand sie vor ihr und drohte ihre ganze Zukunft zu vernichten. Denn sollte ihr Mann wahnsinnig werden, so wäre es ihr – so das Gesetz – niemals möglich, sich von ihm scheiden zu lassen.
Sie behielt ihre panische Angst für sich. Bálint schrieb sie hierüber nichts – wozu sollte sie auch ihn mit Sorgen beladen? Oder vielleicht fürchtete sie abergläubisch, die Gefahr zu beschreiben, als könnte sie, einmal in Worte gefasst, Gestalt annehmen. Und sie gestand nicht einmal sich selber, wie sehr sie auf jedes Wort und jede Bewegung Uzdys achtete. Die Art, wie sie achtgab, war nun anders als früher. Sie hatte an Uzdys Seite auch bisher in ständiger, wacher Bereitschaft gelebt. In den ersten Jahren hatte sie einzig sich selber verteidigt; später, als ihr Herz aufging, auch schon ihre Liebe. Jetzt aber war ihre Aufmerksamkeit sachlich und forschend, sie beobachtete ihn nicht als Kriegsgegnerin, sondern als unbefangene Krankenpflegerin.
Möglich, dass sich ihr Hass gegen Uzdy verminderte, denn vorerst galt nun nicht er als Feind, sondern die Krankheit, die sie von außen zu ergreifen drohte und die, sollte sie jäh auftreten, mit der übermenschlichen, schicksalhaften Kraft alles zerstören würde, wonach sich ihr ganzes Wesen als Frau sehnte. Jede Handlung Pál Uzdys wurde jetzt nur noch zum Symptom. Es waren Daten, äußerst verwickelte Befunde, die, sobald Adrienne sie zu ordnen versuchte, durcheinandergerieten. An einem Tag war sie vertrauensvoll, am nächsten überließ sie sich der Verzweiflung.
Äußerlich gab es nichts Neues, nichts Auffallendes. Uzdy führte sein gewohntes Leben, er benahm sich unverändert überlegen spöttisch und verächtlich höflich, und auf gleiche Weise wie früher geschah es manchmal blitzartig, dass er um sich Furcht verbreitete. An seinen wunderlichen Zahlentabellen arbeitete er wie bisher oder vielleicht noch mehr, denn Dr. Kisch hatte seiner Tätigkeit Lob gespendet. Um seine Frau kümmerte er sich jetzt weniger. Mag sein, dass ihn die vielen am Schreibtisch verbrachten nächtlichen Überstunden ermüdeten, oder es lag an der dämpfenden Wirkung der Mittel, die ihm der sächsische Arzt hatte zukommen lassen. Die Lage wäre normal und im Vergleich zu früher beinahe ruhig erschienen, hätte es bloß nicht einen störenden Umstand
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