Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Der junge Mann stieg aus und betrat die schwach beleuchtete Vorhalle. Vom Stockwerk herab tönten Klavierklänge. Eine Chopin-Nocturne, ein wenig sentimental intoniert, aber brillant perlende Läufe. Wie wunderlich, dachte Bálint, die taube Frau musiziert! Denn dass dort oben sonst jemand spielen sollte, konnte er sich gar nicht vorstellen.
Von irgendwo her tauchte ein Diener auf, der, nachdem Abády seinen Namen genannt hatte, ihn die Treppe hinaufführte. Sie gelangten in einen korridorähnlichen Raum. Man hatte vom mittleren großen Salon, der einst das ganze Haus unterteilte, beim Treppenaufgang einen etwa zwei Meter breiten Streifen mit einer Glaswand abgetrennt – vielleicht mit der Absicht, hier eine Verbindung zwischen den beiden Hausteilen zu schaffen, sodass man nicht mehr genötigt war, immer die mittlere Halle zu betreten.
Der Korridor lag im Dunkeln. Hinter den Türen, die man von oben bis unten aus Glas gefertigt hatte, war der Salon erleuchtet. Schneeweiß gestrichene Wände. Ein einziges großes Frauenporträt über dem Kanapee. Steife Ebenholzmöbel vom Anfang des vorigen Jahrhunderts, von denen es in Siebenbürgen so viele gab, noch mit dem blau-weiß gestreiften Glanzperkal von damals bezogen. Auf dem Tisch eine Leuchte mit hohem Gestell und Schirm. Darunter saß die jugendliche Frau Kendy vor ihrem Stickrahmen und reihte ihre Stiche aneinander. Vor dem riesigen, alten Flügel vor dem dunklen Fenster hatte der greise Kendy Platz genommen. Er war es, der musizierte.
Dass dieser alte Herr, der gern unanständige Reden führte, bäurisch auftrat und eine harte Miene aufsetzte, jetzt empfindsam Chopin spielte, war dermaßen überraschend, dass Bálint der Atem stockte. Ihn überkam das Gefühl, als spähe er heimlich ein sorgsam gehütetes Geheimnis aus, da doch niemand je davon Kenntnis hatte, dass Kajsza Klavier spielte, und ebenso wenig hätte dies jemand je vermutet. Und siehe da, dort saß er. Sein riesiger Oberkörper regte sich nicht, seine Stirnglatze und Adlernase verloren ihre Umrisse im Dämmerlicht. Er blickte vor sich hin ins Nichts. Aber die Töne unter seinen Fingern sangen, es waren die gewiss schon hundertmal gespielten wehmütigen Melodien. Er spielte für sich selbst, die Frau war ja gehörlos. Für sich selbst spielte er diese schöne, ein wenig altmodische, ein bisschen süßliche Musik, für sich dort in der dunklen Ecke des Salons. Er spielte aus dem Gedächtnis und vielleicht auch, um zu gedenken …
Bálint berührte den Diener am Arm.
»Warten wir, bis er das Spiel beendet«, flüsterte er ihm zu.
Sie warteten. Kajsza spielte noch zwei Préludes. Dann erhob er sich und ging mit schweren Schritten hinüber zur Frau. Die Wartenden traten erst jetzt ein, als wären sie eben im Korridor angelangt. Kendy empfing ihn freundlich.
»Woher zum Teufel verschlägt es dich um solche Zeit hierher?«, fragte er schief lachend, und dann wandte er sich an seine Gattin. Er kippte seinen Schnurrbart mit beiden Händen nach oben, und nur seine Lippen sprachen: »Dies ist Bálint Abády!«
Die Frau stand auf und reichte ihm die Hand. Ihre Geste enthielt etwas Demütiges, als wäre sie hier nicht zu Hause, nicht die Frau des mächtigen Woiwoden Kendy, sondern immer noch ein Tippfräulein. Überaus leise sagte sie: »Ich freue mich sehr, herzlich willkommen!« Sie sprach mit dem kaum vernehmbaren Flüstern tauber Menschen, welche die eigene Tonstärke nicht zu beurteilen wissen. Ein schönes, ruhiges Lächeln erleuchtete ihre Miene.
Es war ein interessantes Gesicht. Blass. Ihr Mund war breit, an Ausdruckskraft reich. Ihre graue Iris blickte zwischen dichten Wimpern auf den Gast. Die starken, rußfarbenen Brauen, an der Nasenwurzel zusammengewachsen, verliehen ihr einen wundervoll rätselhaften Zug. Sie wirkte, als betrachte sie ihr Gegenüber aus großer Entfernung. Das Haar war nicht schwarz, sondern hellbraun und gewellt. Und sie hatte volles, langes Haar, zwei pralle Zöpfe trug sie, wie wir das auf den Porträts von Königin Elisabeth sehen, einer Krone gleich um den Kopf gewickelt.
Jetzt blickte sie ihren Mann an, als wollte sie fragen, ob sie richtig handle, und dann zeigte sie mit einer anmutigen, ein wenig trägen, beinahe feierlichen Geste auf einen der Lehnstühle. Bálint setzte sich; er berichtete, was ihn hergeführt habe. Dass er nach Schäßburg aufgebrochen sei und mit dem frühmorgendlichen Schnellzug habe nach Hause reisen wollen. Und dass ein Pferd des Fuhrmanns lahm
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