Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Behauptung, dass die ungarische Öffentlichkeit einzig für einen Defensivkrieg Verständnis hätte, und der Art, wie Slawata dies als Information und Ratschlag auffasste, war der Unterschied nur eine Schattierung, so gering, dass er sich nicht einmal erklären ließ. So stand er also ärgerlich und voller Sorge mitten im Zimmer. Die Eindrücke des heutigen Abends ordneten sich langsam zu einem Gesamtbild. Unten im Salon hatten die in gedämpften Worten und vieldeutigen Sätzen geführten Reden und Widerreden seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Hier beim Gespräch mit Slawata hatte ihn dessen kalter Zynismus empört. Jetzt, da er allein geblieben war, erwog er bestürzt die schrecklichen Möglichkeiten einer vielleicht gar nicht so weit entfernten Zukunft. Krieg! Krieg nicht in fernen Kolonien, sondern hier in Europa. Ein Kampf um Leben und Tod, um die Existenz. Krieg, der, sollte er verloren gehen, die Doppelmonarchie zerbrechen würde, Krieg, dessen Preis sein Vaterland zu bezahlen hätte sowie Siebenbürgen, das einer Zitadelle gleich am Weg steht, der die Russen nach Konstantinopel führt.
Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu, er atmete schwer. Er öffnete das Fenster. Die Luft schlug ihm frostig entgegen. Gut, das war gut, es wirkte lindernd. Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Sims. Die Landschaft unter ihm war in der mondlosen Nacht unsichtbar. Alles lag im Dunkel, im tiefsten Dunkel. Nur die Milliarden von Sternen setzten Lichtpunkte auf den Himmel. Die unveränderlichen Sterne, die seit Millionen Jahren gleichgültig auf das menschliche Elend hinabblicken. Riesige Schriftzeichen. Nie hat jemand ihre rätselhaften, goldenen Buchstaben entziffert, obwohl alte Magier behaupteten, das Schicksal stehe dort geschrieben, das Schicksal von Menschen, von Völkern und Kontinenten.
Und wie zur Verspottung der Ausmaße des Weltalls tauchte unten, irgendwo den Vág entlang, ein winziges Licht auf; es zog, als krieche es, langsam gegen Norden; dahinter, kaum einen Fingerbreit entfernt, leuchtete zuweilen ein rotglühendes Pünktchen auf: der Schnellzug nach Berlin. Das Paffen der Lokomotive war in der lautlosen Nacht selbst hier zu vernehmen. Bálints Herz wurde schwer bei diesem Anblick. Hier, an dieser Stelle, würden die Soldatenzüge nach Norden fahren, wenn es zum Krieg gegen Russland käme. Hier führten sie Tausende und Abertausende, die Jugend des Landes in den Kampf, in den Tod … gegen einen an Zahl vielfach überlegenen Feind und vielleicht, ja, vielleicht vergeblich …
Wárday bewohnte das dritte Zimmer links von der Kapelle. Er bereitete sich umständlich auf den großen Augenblick vor, da er in das Gemach der wunderbaren Fanny würde hineinschleichen dürfen. Als er nach viel verwendeter Sorgfalt auf alle Einzelheiten fand, sein Haar glänze nun wie erwünscht, Gesicht, Hals und Schultern dufteten ausreichend und der seidene Schlafrock stehe ihm so gut, wie es sich gehöre, begann er zu horchen. Er löschte das Licht und öffnete einen Spaltbreit die Tür. Er schickte sich beinahe schon an, den Korridor zu betreten, als unerwartet Slawata, sein Nachbar, an ihm vorbeischritt. Er musste warten. Endlich trat Stille ein. Na, jetzt, jetzt dürfen wir gehen!
Als er aber die Tür vorsichtig auftat, öffnete sich überraschend die zweitnächste Tür, und Pfaffulus trat heraus. Ein Glück, dass er nicht auf ihn zukam, sondern sich, ein Brevier unter dem Arm, zum Kapellenportal begab. Er trug schlicht eine schwarze Soutane, das rote Band und die Halskette hatte er abgelegt. Er verschwand. Die Kapellentür schnappte hinter ihm leise ein.
Wárday wartete noch einige Minuten – vielleicht würde der Priester zurückkehren. Aber wo er doch sein kleines Gebetbuch mitgenommen hatte! Gewiss will er dort beten, na also, lass uns gehen! Endlich zog er los. Auf dem Teppich im Korridor ließ er die Füße gleiten, als fahre er Schlittschuh, damit seine Pantoffeln nicht klatschten, bis er schließlich neben der Bedienstetentreppe beim Badezimmereingang ankam. Die Tür war offen; drinnen herrschte Dunkelheit. Jetzt fiel ihm ein, was ihm Frau Berédy vor sieben Jahren beigebracht hatte, als er ihr Liebhaber geworden war: »Es ist klüger, für einen Augenblick das Licht anzumachen, um sich umzusehen, statt über etwas zu stolpern und Lärm zu verursachen.« Er lächelte bei dieser Erinnerung, und seine Hand suchte den Schalter. Licht! Da neben ihm, da war die Tür des Gastzimmers, wo ihn die wundervolle Frau
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