Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
des englischen Volks in Rechnung stellen. Es gibt nur eine Lösung, nach welcher man sofort greifen muss, bevor es zu spät ist, das ist die Ansicht von Generalstabschef Conrad. Wir müssen einzeln mit den Gegnern abrechnen, und zwar zuvorderst mit Italien, das heute kampfunfähig ist, keine Festungen besitzt und nur über eine veraltete Artillerie verfügt. Die unsere ist zwar dank dem Widerstand der Ungarn auch veraltet« – Slawata lächelte an dieser Stelle boshaft –, »aber der Rückstand der Italiener ist noch größer als der unsere. Es steht fest, dass wir ziemlich leichtes Spiel hätten. Darum habe ich gefragt: Was wäre in einem solchen Fall der ungarische Standpunkt?«
»Es unterliegt keinem Zweifel, dass Ungarn der gemeinsamen Verteidigungspflicht entsprechen wird. Auch die Königstreue ist trotz allem Anschein überaus stark. Sicher ist aber auch, dass Italien bei uns sehr viel Sympathie genießt und dass die Öffentlichkeit nur für einen Defensivkrieg Verständnis hätte …«
»Das ist interessant!«, warf Jan ein, und nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Du hast recht. Man müsste den Zwischenfall, der sich als Kriegsgrund benutzen ließe, in Fiume provozieren. Natürlich!« Und seine Stimme wurde wieder spöttisch, als er seine Erklärung mit einer clownesken Armbewegung fortsetzte: »Die Länder der Heiligen Krone! Versteht sich! So muss man es anstellen, so wird die Sache sofort zu einer ungarischen Angelegenheit und in den Augen der Ungarn zum Defensivkrieg. Sehr gut! Sehr gut!« 50
Bálints Miene verfinsterte sich. Kritik von Fremden an seiner Nation schmerzte ihn immer sehr. Er entgegnete in beinahe verweisendem Ton:
»Diese Begriffe sind auch für mich heilig. Ich bitte dich darum, auf Spott zu verzichten, wenn du wert darauf legst, uns ruhig zu unterhalten.«
»Pardon«, erwiderte der andere rasch, »du missverstehst mich. Es fällt mir nicht ein zu spotten, ich habe dies vorhin nur hervorgehoben, um zu zeigen, wie gut ich die ungarische staatsrechtliche Ideologie kenne.«
Für einige Sekunden verstummten sie. Dann unterbrach Bálint die Stille: »Präventivkrieg? Ist das nicht ein furchtbarer Begriff? Bismarck hat irgendwo gesagt: Ich würde niemals raten, einen Krieg darum zu beginnen, weil der Gegner später darauf besser vorbereitet sein wird. Dabei war er wirklich kein sentimentaler Mann.«
Slawata zuckte die Achseln. »Wenn du weißt, dass dir draußen im Wald Wilderer auflauern und dich umbringen wollen, schießt du nicht auf einen von ihnen, bevor sie dich unrettbar umzingeln? Das hier ist der gleiche Fall.«
Während einiger Augenblicke dachte er nach, dann fuhr er fort: »Ein kleinerer Krieg dieser Art würde auch die ungarische Krise lösen. Wir könnten uns auf die Zeit der größeren Kraftprobe vorbereiten, auf den früher oder später unvermeidlichen russischen Angriff. Nach einer Kriegserklärung würde das ungarische Parlament bestimmt jeden Anspruch der Armee billigen.«
Bálint antwortete nicht. Das, wofür Slawata eintrat, erfüllte ihn mit Grauen, obwohl er sich der vorgebrachten logischen Begründung nicht zu verschließen vermochte. Eine ihm verliehene seltene Gabe, fast einem Fluch gleich, kam wieder zur Geltung: Er verstand den gegnerischen Standpunkt, sah die Berechtigung auch dessen, was seine Natur von sich wies. Darunter hatte er schon früher bei den Obstruktionen und während der Zeit der Regierung Fejérváry oft gelitten. Auch jetzt spürte er einen beinahe körperlichen Schmerz. »Und für wann plant ihr das?«, brachte er schließlich die Frage heraus.
»Ach, da gibt es noch gar nichts. Seine Hoheit« – damit meinte er den Thronfolger – »und Conrad vertreten diese Ansicht. Aehrenthal 51 leistet Widerstand. Und was den alten Herrn angeht, nun, du kannst dir denken, dass er nur auf Frieden bedacht ist. Wir bereiten die Stimmung trotzdem vor. Bürgermeister Lueger wird morgen bei der Wiener Radetzky-Feier in angriffigem Ton über Italien sprechen.«
Sie wechselten noch einige nichtssagende Worte, und Slawata entfernte sich. »Na! Vederemo! Und ich danke dir für den wertvollen Tipp!« 52 , sagte er bei der Tür und verschwand.
Er dankt! Bálint ärgerte sich unmäßig. Der Kerl stellt es dar, als habe er ihm irgendeinen Rat gegeben! Er geriet dermaßen in Zorn, dass er ihm beinahe hinterhergelaufen wäre. Aber er rührte sich nicht: Das hätte doch keinen Sinn! Slawata hatte auf seine Art nur höflich getan. Zwischen seiner nackten
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