Verstand und Gefühl
gelesen hatte; und so vollständig vergaß sie, wie lange sie in dem Zimmer gewesen war, daß sie, als eine Kutsche vorgefahren kam, zum Fenster ging, um zu sehen, wer denn da so unzumutbar früh kam – und vollkommen erstaunt war, Mrs. Jennings’ Kutsche zu erkennen, die, wie sie wußte, erst zu ein Uhr bestellt worden war. Entschlossen, Marianne nicht zu verlassen, wenn es im Augenblick auch hoffnungslos war, etwas zu ihrer Erleichterung zu tun, eilte sie fort, um sich bei Mrs. Jennings zu entschuldigen, da es ihrer Schwester nicht gutgehe. Mrs. Jennings, mit ihrer ganz und gar gutmütigen Besorgnis um die Ursache ließ die Entschuldigung sehr bereitwillig gelten; und nachdem Elinor sie zur Kutsche begleitet hatte, kehrte sie zu Marianne zurück. Sie kam dazu, wie sie eben versuchte, sich vom Bett zu erheben – und gerade rechtzeitig, um zu verhindern, daß sie vor Schwäche und plötzlichem Schwindel durch den langen Mangel an Schlaf und ordentlicher Nahrung zu Boden sank; denn sie hatte schon viele Tage lang keinen Appetit gehabt und hatte seit vielen Nächten nicht richtig geschlafen; und nun, da ihre Kraft nicht mehr von der fieberhaften Erregung der Ungewißheit aufrechterhalten wurde, zeigten sich die Folgen davon in Kopfschmerzen, einem geschwächten Magen und einer allgemeinen nervösen Erschöpfung. Ein Glas Wein, das Elinor augenblicklich für sie holte, erleichterte sie etwas, und sie war schließlich in der Lage, ein Gefühl für die Güte ihrer Schwester zum Ausdruck zu bringen; und sie sagte: »Arme Elinor! Wie unglücklich ich dich mache!«
»Ich wünschte nur«, erwiderte ihre Schwester, »es gäbe für mich etwas zu tun, das dir wohltun könnte.«
Das war, wie alles andere es ebenso gewesen wäre, zuviel für Marianne, die in ihrer Herzensqual nur ausrufen konnte: |201| »O Elinor, ich bin so elend«, ehe ihre Stimme völlig in Schluchzen erstickte.
Elinor konnte diese Flut widerstandslosen Schmerzes nicht länger schweigend mit ansehen.
»Fasse dich, liebe Marianne, wenn du nicht dich selbst und alle, die dich lieben, töten willst. Denk an deine Mutter; denk an ihren Kummer, wenn du leidest; um ihretwillen mußt du dich zusammennehmen.«
»Ich kann es nicht, ich kann es nicht«, rief Marianne, »verlaß mich, verlaß mich, wenn ich dich quäle; verlaß mich, hasse mich, vergiß mich; aber martere mich nicht so. Ach, wie leicht es ist für diejenigen, die selbst keinen Kummer haben, von Zusammennehmen zu sprechen! Glückliche, glückliche Elinor,
du
kannst nicht ahnen, was ich leide.«
»Du nennst
mich
glücklich, Marianne! Oh, wenn du wüßtest! Kannst du denn glauben, ich könnte glücklich sein, wenn ich dich so elend sehe!«
»Verzeih mir, verzeih mir«, und sie schlang ihrer Schwester die Arme um den Hals; »ich weiß, du fühlst mit mir; ich kenne dein Herz; aber du mußt doch glücklich sein; Edward liebt dich – was, ach, was kann ein solches Glück zerstören!«
»Viele, viele Umstände«, sagte Elinor ernst.
»Nein, nein, nein«, rief Marianne wild, »er liebt dich, und nur dich. Du kannst keinen Kummer haben.«
»Für mich gibt es keine Freude, solange ich dich in diesem Zustand sehe.«
»Und du wirst mich niemals anders sehen. Ich habe ein Unglück erfahren, das nichts aus der Welt schaffen kann.«
»Du darfst nicht so sprechen, Marianne. Hast du denn nichts, was dich tröstet? Keine Freunde, keine Angehörigen? Ist dein Verlust solcherart, daß er dir keine Möglichkeit des Trostes läßt? Soviel du jetzt auch leidest, denk daran, was du gelitten hättest, wenn dir sein Charakter erst zu einer späteren Zeit enthüllt worden wäre – wenn deine Verlobung Monat um Monat weiterbestanden hätte, wie es ja möglich gewesen wäre, ehe es ihm beliebt hätte, ihr ein Ende zu machen. Jeder |202| weitere Tag unglücklichen Vertrauens von deiner Seite hätte den Schlag noch schrecklicher gemacht.«
»Verlobung!« rief Marianne, »es gab keine Verlobung.«
»Keine Verlobung!«
»Nein, er ist nicht so unwürdig, wie du glaubst. Er hat mir nicht die Treue gebrochen.«
»Aber er hat dir doch gesagt, daß er dich liebt?«
»Ja – nein – nie – so eindeutig. Es wurde jeden Tag stillschweigend zu verstehen gegeben, aber nie offen erklärt. Manchmal glaubte ich es – aber es geschah niemals.«
»Und doch hast du ihm geschrieben?«
»Ja – konnte das denn falsch sein nach allem, was war? Aber ich kann nicht mehr sprechen.«
Elinor sagte nichts mehr und wandte sich
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