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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Elinor verhindern, daß sie ihm selbst folgte. Sie zu überzeugen, ihre Erregung zu zügeln – zumindest mit einem Anschein von Fassung zu warten, bis sie ungestörter und mit mehr Erfolg mit ihm sprechen könne – war unmöglich; denn Marianne fuhr unablässig fort, sich mit leiser Stimme ihrem Elend durch Ausrufe des Jammers hinzugeben. Nach kurzer Zeit sah Elinor Willoughby den Raum durch die zur Treppe führende Tür verlassen; sie erklärte Marianne – als ein neues Argument, sich zu beruhigen   –, daß er fortgegangen und es unmöglich sei, noch an diesem Abend mit ihm zu sprechen. Marianne bat ihre Schwester sofort, Lady Middleton anzuflehen, sie beide nach Hause zu bringen, denn sie sei zu elend, um noch eine Minute länger zu bleiben.
    Obgleich Lady Middleton mitten in einer Partie Rubber war, als sie von Mariannes Unpäßlichkeit erfuhr, war sie zu höflich, um auch nur einen Augenblick etwas gegen ihren Wunsch einzuwenden; und nachdem sie ihre Karten jemand anders übergeben hatte, fuhren sie ab, sobald sie die Kutsche gefunden hatten. Es wurde kaum ein Wort gesprochen während ihrer Rückkehr nach Berkeley Street. Marianne litt im stillen schreckliche Qualen. Sie war zu sehr niedergedrückt, um überhaupt weinen zu können; doch da Mrs.   Jennings zum Glück nicht zu Hause war, konnten sie sofort in ihr eigenes Zimmer gehen, wo Hirschhorngeist sie wieder ein wenig zu sich brachte. Sie war bald ausgekleidet und im Bett, und da sie offenbar allein sein wollte, verließ ihre Schwester sie und |194| hatte nun, während sie auf Mrs.   Jennings wartete, genug Muße, über das Geschehene nachzudenken.
    Daß es irgendein Versprechen zwischen Willoughby und Marianne gegeben hatte, konnte sie nicht bezweifeln; und daß Willoughby dessen überdrüssig war, schien ebenso klar; denn wie sehr Marianne auch noch immer ihre eigenen Wünsche nähren mochte, so konnte
sie
doch ein solches Verhalten nicht einem Irrtum oder Mißverständnis irgendwelcher Art zuschreiben. Allein eine gänzliche Sinnesänderung konnte das erklären. Ihre Empörung wäre noch stärker gewesen, wenn sie nicht seine Verlegenheit bemerkt hätte, die dafür zu sprechen schien, daß ihm sein schlechtes Betragen durchaus bewußt war, weshalb sie ihn nicht für so gewissenlos hielt, daß er von Anfang an mit der Zuneigung ihrer Schwester nur gespielt haben könnte, ohne jede Absicht, die einer Prüfung standgehalten hätte. Abwesenheit mochte seine Liebe abgeschwächt haben, und Bequemlichkeit mochte ihn bestimmt haben, sie zu überwinden; doch daß eine solche Liebe früher existiert hatte, konnte und wollte sie nicht bezweifeln.
    Was Marianne betraf, so konnte Elinor nicht ohne tiefste Besorgnis an die Qualen denken, die ihr ein so unglückliches Zusammentreffen schon bereitet haben mußte – und an die noch schlimmeren, die in der vermutlichen Folge davon noch zu erwarten waren. Ihre eigene Lage gewann im Vergleich dazu; denn da sie Edward noch ebenso schätzen konnte wie früher, wie endgültig sie auch in Zukunft getrennt sein mochten, würde sie dieser Gedanke stets stärken. Doch alle Umstände, die ein solches Übel verschlimmern konnten, schienen hier zusammenzukommen, um Mariannes Unglück bei einer endgültigen Trennung von Willoughby noch zu vergrößern – durch einen sofortigen und unversöhnlichen Bruch.

|195| Kapitel 29
    Noch bevor das Hausmädchen am nächsten Tag bei ihnen im Kamin Feuer gemacht und die Sonne etwas Macht über einen kalten, düsteren Januarmorgen gewonnen hatte, kniete Marianne, nur halb angezogen, an einer der Fensterbänke, um das wenige Licht zu nutzen, das sie von dort bekommen konnte, und schrieb – so schnell es ihre ständig fließenden Tränen erlaubten. In dieser Stellung erblickte Elinor sie zuerst, wach geworden durch ihre Erregung und ihr Schluchzen; und nachdem sie ihre Schwester in stiller Sorge ein paar Augenblicke beobachtet hatte, sagte sie im Ton rücksichtsvollster Sanftheit: »Marianne, darf ich fragen   ...?«
    »Nein, Elinor«, erwiderte sie, »frage nichts; du wirst bald alles wissen.«
    Die verzweifelte Ruhe, in der sie das sagte, hielt nur an, solange sie sprach, und der gleiche unsagbare Kummer kehrte daraufhin sofort wieder. Es dauerte einige Minuten, ehe sie ihren Brief weiterschreiben konnte; und die häufigen schmerzlichen Ausbrüche, die sie immer wieder nötigten, ihre Feder anzuhalten, waren Beweis genug, daß sie wohl fühlte, es würde sehr wahrscheinlich der letzte

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