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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Brief in der Hand und ein paar anderen neben sich. Elinor kam heran, doch ohne ein Wort zu sagen; sie setzte sich auf das Bett, nahm ihre Hand, küßte sie mehrere Male liebevoll und überließ sich dann einem Strom von Tränen, der zu Anfang kaum weniger heftig war als Mariannes. Diese schien, auch |198| wenn sie nicht sprechen konnte, die ganze Zärtlichkeit, die darin lag, zu fühlen; und nach einiger Zeit, die sie in vereintem Schmerz verbracht hatten, legte sie all die Briefe in Elinors Hände; dann bedeckte sie ihr Gesicht mit ihrem Taschentuch und schrie fast vor innerer Qual. Elinor, die wußte, daß ein solcher Schmerz, so erschütternd es war, ihn mit anzusehen, seinen Lauf nehmen mußte, blieb bei ihr, bis das Übermaß des Leidens sich ein wenig erschöpft hatte; dann wandte sie sich voll Ungeduld dem Brief Willoughbys zu und las das Folgende.
    Bond Street, im Januar
    Meine liebe Madam,
    ich hatte soeben die Ehre, Ihren Brief zu erhalten, für den ich meinen aufrichtigen Dank aussprechen möchte. Es bekümmert mich sehr zu erfahren, daß es in meinem Verhalten am vorigen Abend etwas gab, das nicht Ihre Billigung fand; und obgleich ich absolut nicht herausfinden kann, worin ich so unglücklich war, Sie zu kränken, bitte ich Sie inständig um Vergebung für etwas, das, wie ich Ihnen versichern kann, vollkommen ohne Absicht geschehen ist. Ich werde niemals ohne die dankbarste Freude an meine frühere Bekanntschaft mit Ihrer Familie in Devonshire zurückdenken, und ich schmeichle mir, daß diese nicht durch einen Irrtum oder ein Mißverständnis hinsichtlich meiner Handlungen abgebrochen werden wird. Meine Wertschätzung für Ihre ganze Familie ist sehr aufrichtig; doch wenn ich so unglücklich war, den Glauben an mehr, als ich fühlte oder als ich ausdrücken wollte, erweckt zu haben, muß ich mir den Vorwurf machen, in den Bekundungen meiner Wertschätzung nicht zurückhaltender gewesen zu sein. Daß ich jemals mehr beabsichtigt habe, werden Sie als unmöglich einräumen, wenn Sie wissen, daß meine Zuneigung seit langem jemand anders gehört, und schon in wenigen Wochen, denke ich, wird dieses Verlöbnis seine Erfüllung finden. Mit großem Bedauern komme ich |199| Ihrer Forderung nach, die Briefe, mit denen Sie mich beehrt, und die Haarlocke, die Sie mir liebenswürdigerweise geschenkt haben, zurückzugeben.
    Ich verbleibe, liebe Madam,
    Ihr gehorsamster untertäniger Diener
    John Willoughby
    Man kann sich vorstellen, mit welcher Empörung Miss Dashwood einen solchen Brief lesen mußte. Obgleich sie sich schon, bevor sie den Brief las, bewußt gewesen war, daß er ein Bekenntnis seiner Unbeständigkeit enthalten und ihre endgültige Trennung bestätigen mußte, ahnte sie nicht, daß dies in einer solchen Sprache geschehen konnte! Auch hatte sie nicht vermuten können, daß Willoughby imstande war, so weit allen Anschein von Ehrenhaftigkeit und Taktgefühl, so weit alle üblichen Anstandsformen eines Gentleman außer acht zu lassen, daß er einen so unverhohlen grausamen Brief schicken konnte, einen Brief, in dem er – statt mit seinem Wunsch, ihn freizugeben, irgendwelche Bekenntnisse des Bedauerns auszudrücken – keinen Treuebruch zugab, jegliche besondere Zuneigung leugnete – einen Brief, in dem jede Zeile eine Beleidigung war und der seinen Verfasser als einen hartgesottenen, gefühllosen Schurken kennzeichnete.
    Sie hielt mit fassungsloser Empörung eine Zeitlang darüber inne; dann las sie ihn wieder und wieder; aber jedes Durchlesen diente nur dazu, ihren Abscheu vor dem Mann noch zu vergrößern; und so bitter waren ihre Gefühle gegen ihn, daß sie sich nicht getraute, etwas zu sagen, damit sie Marianne nicht noch tiefer verletzte, indem sie ihre Trennung von Willoughby nicht als den Verlust von etwas möglicherweise Gutem behandelte, sondern als ein Entrinnen vor dem schlimmsten und am wenigsten wiedergutzumachenden aller Übel – einer Verbindung fürs Leben mit einem gewissenlosen Mann   –, als eine echte Befreiung und den größten Segen.
    Bei ihren ernsten Betrachtungen über den Inhalt des Briefes |200| , über die Verderbtheit des Geistes, der dies hatte diktieren können, und, vermutlich, über den so ganz anderen Geist eines ganz anderen Menschen, der keine andere Beziehung zu der Sache hatte als diejenige, die ihr Herz ihm gab bei allem, was geschah – vergaß Elinor das augenblickliche Leid ihrer Schwester, vergaß, daß drei Briefe auf ihrem Schoß lagen, die sie noch nicht

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