Versteckt wie Anne Frank
untergetaucht war, ich hatte nicht mal ein Versteck im Haus. Wahrscheinlich hat ein anderer Nachbar mich verraten.
Als die Nachbarn von gegenüber die SS bei uns sahen, stand gerade ein Bäckerjunge mit seinem Rad bei ihnen vor der Tür. »Fahr sofort zur Schule«, trugen sie dem Jungen auf, »das jüdische Kind muss weg. Wenn sie es finden, passieren schlimme Dinge.«
Kaum dass ich in dem Kasten saß, in dem normalerweise die auszufahrenden Brote lagen, knallte der Junge den Deckel zu. Finsternis. An dem Holpern merkte ich, dass er die Straße verließ und dann das Dorf. Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus, vorsichtig öffnete ich den Deckel einen Spalt. Der Bäckerjunge schrie sofort: »Der Deckel geht erst auf, wenn ich es sage!« Da saß ich wieder im Dunkeln.
Nach langer Zeit, bestimmt eine ganze Stunde später, wurde der Deckel ein wenig geöffnet. Der Bäckerjunge radelte weiter. Durch den Spalt sah ich Kühe auf einer Weide grasen.
Er brachte mich zu einem Pfarrer in Maarn, einem Dorf in der Umgebung. Der hat mich später wiederum zu anderen Leuten gebracht. Nun folgte Adresse auf Adresse. Meistens brachte man mich abends auf dem Rad weg. An diese Fahrten erinnere ich mich nur noch vage: die Dunkelheit, die Kälte, das Sitzen auf dem Gepäckträger des Rades. Auch an die Leute, bei denen ich nur eine Nacht oder zwei Nächte blieb, erinnere ich mich nicht gut.
Das ging so weiter, bis ich im Herbst 1943 nach Deventer gebracht wurde. Um dorthin zu gelangen, musste ich über eine große Brücke gehen, die IJsselbrug. Die Deutschen ließen nur am späten Nachmittag gegen fünf Uhr eine kleine Gruppe von Leuten die Brücke überqueren.
Da stand ich mit ungefähr zwanzig anderen. Ich durfte nicht reden, mich nicht umschauen, ich musste einer fremden Frau die Hand geben und zielstrebig gehen. Es war ein richtiger Herbsttag und kalt. Todesängste habe ich auf dieser Brücke ausgestanden.
Auf der anderen Seite empfing uns das Rote Kreuz in einem kleinen Raum. Es war, als würde ich in einem warmen Bad landen, plötzlich hatte ich das Gefühl, willkommen zu sein. Eine Frau nahm mich auf den Schoß und legte einen Arm um mich – das war ich überhaupt nicht mehr gewöhnt.
Über Umwege kam ich im Sommer 1944 in Friesland an, auf einem Bauernhof ein paar Kilometer entfernt von der Ortschaft Hommerts, wo ich bis Kriegsende blieb. Die Familie Langeraap nahm mich sehr herzlich auf. Sie hatten fünf Kinder, und während ich dort war, wurde sogar noch ein sechstes geboren. Allesamt blond und blauäugig.
Ich hatte es gut bei der Familie Langeraap – soweit das möglich war. Sie schlugen mich nicht, sie zwangen mich nicht zum Essen. Sogar im Hungerwinter 1944 gab es dort genügend Nahrung. Sie hatten ein paar Kühe und Ziegen und viel Land, auf dem sie Kartoffeln anbauten. Ich muss schwierig gewesen sein, denn ich war in meine eigene Welt abgetaucht, eine düstere Welt, in der ich jeden Tag an meine Mutter dachte und mich fragte, weshalb sie mich im Stich gelassen hatte.
Tagsüber ging ich in Hommerts zur Schule. Das war 1944 ziemlich gefährlich. Wurde ein Jude geschnappt, ging er sofort auf Transport. Um nach Hommerts zu kommen, musste ich erst mit einem Boot über den Kanal fahren und dann eine Dreiviertelstunde zu Fuß durch die Weiden laufen. Zum Glück ging ich nie allein, es gab noch vier Kinder in der Umgebung, die in Hommerts zur Schule gingen. Im Winter war es bitterkalt, auf dem Schulweg pfiff ein eisiger Wind.
Obwohl ich die Kälte nicht gut vertrug, lernte ich in Friesland Schlittschuh laufen, was mir richtig Spaß machte.
Meine Klassenkameraden waren nett zu mir. Ich wurde ein jüdischer Junge, der Friesisch sprach. Nach dem Krieg dauerte es Monate, bis ich wieder Niederländisch sprach, so tief war das Friesische in mir verankert.
Einmal fand im Winter eine Hausdurchsuchung statt, es war Anfang 1945. Aber darauf waren wir vorbereitet, ich hatte auf dem Dachboden des Bauernhofs ein Versteck. Unter der Dachschräge war mit einigen Brettern ein kleiner Hohlraum abgetrennt worden, im Durchmesser nicht viel größer als ein Regenrohr. Es war eine Art Kriechraum, ich passte gerade eben hinein.
Wir sahen die Deutschen mit dem Boot ankommen, sie waren zu dritt. »Du musst weg«, sagte meine Untertauchmutter, »schnell, auf den Dachboden.« Ich wusste sofort, dass ich in Gefahr war. Es dauerte eine Weile, ehe sie am Haus ankamen. Ich kroch ins Versteck zwischen den Brettern und der Dachschräge.
Weitere Kostenlose Bücher