Versteckt wie Anne Frank
Bummelzug. Und auf der Rückfahrt hatten die Mäuse sich an den Einkäufen gütlich getan, von den Keksen war kein Krümel mehr übrig.
Auf diesen Fahrten nach Groningen wurde Lammie ein paarmal ganz übel von früheren Schulkameraden in die Mangel genommen. Ihnen war es ein Dorn im Auge, dass sie das Abzeichen der NSB auf der Jacke trug.
Wenn sie dann nach Hause kam, hatte sie überall blaue Flecken und ihre Kleidung war zerknittert und hatte Löcher. Ihre Eltern hatten zu viel zu tun, um sich groß um sie zu kümmern. Wir sahen uns immer öfter. Genau wie ich war sie einsam. In dem zwanzig Quadratmeter großen Zimmer wohnten drei Ehepaare, zwei von ihnen mit Kindern. Ich bot ihr die Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Und wenn man einander tröstet, fasst man sich an, und manchmal wird mehr daraus. Wir verliebten uns, und so entstand ein neues Problem: Lammie wurde schwanger. Mutter Drenth fand das schlimm, sehr schlimm. Ihr Vater sah es nüchtern. »Wenn ihr nach dem Krieg nur heiratet, habe ich gar nix dagegen.«
Wir konnten kaum Sachen für das Baby kaufen. Alle wussten, dass Lammie für die NSB arbeitete, und darum weigerten sich die Ladenbesitzer, ihr etwas zu verkaufen. Schließlich fanden wir ein einziges Textilgeschäft, in dem die Familie Drenth noch nie einen Cent ausgegeben hatte, das uns nicht allzu teuer Windeln, Babykleidung, ein Bettchen und was man sonst noch so brauchte, verkaufte.
Die Geburt fand im Wohnzimmer statt. Ein Arzt war dabei, Vater und Mutter Drenth und ich. Als unsere Tochter zur Welt kam, fing sie so laut an zu schreien, dass alle Kinder im Haus aufwachten. Sie wussten gleich, was los war, sie hatten Lammie dicker werden sehen. Wir holten sie kurz aus den Betten und zeigten ihnen das Baby. Beruhigt gingen sie danach alle fünf wieder schlafen.
Nach dem Krieg heirateten wir, genau wie Vater Drenth es gern wollte. Unsere älteste Tochter ist jetzt fünfundsechzig.
Der Vater meines Vaters
Michel Goldsteen,
geboren in Meppel am 5. Mai 1933
Mein Vater besaß einen Gardinengroßhandel. Wenn er auf Geschäftsreise war, durfte ich manchmal bei meiner Mutter im Bett schlafen und für sie einkaufen. Dadurch entstand ein großes Gefühl der Zusammengehörigkeit: Ich war der älteste Sohn, der Erstgeborene. Mein Opa, der Vater meiner Mutter, wohnte bei uns im Haus – meine Oma war 1927 recht jung gestorben. In dieser Zeit war es üblich, einen alten Vater bei sich zu Hause aufzunehmen. Aber es führte zu Spannungen, denn mein Großvater und meine Mutter hielten sich streng an die jüdischen Gesetze, im Gegensatz zu meinem Vater, der sehr locker damit umging. Selbstverständlich war bei uns alles koscher . Aber es gab viel mehr Regeln. So durfte man am Sabbat nichts zerreißen. Die Post blieb dann ungeöffnet und auf dem WC wurden zuvor abgerissene Blätter Toilettenpapier bereitgelegt. Das christliche Dienstmädchen zündete am Sabbat immer das Licht bei uns an, denn auch das war uns nicht erlaubt.
Wenn mein Vater nach Hause kam, musste er die religiösen Auffassungen seines Schwiegervaters respektieren. Das ärgerte ihn oft. Außer Haus aß mein Vater sogar Schweinefleisch, was nach den jüdischen Speisegesetzen verboten ist. Am Samstag ging ich mit meinem Vater und meinem Großvater zur Sjoel . Meine Hebräisch-Fortschritte konnten sich sehen lassen, auch dank der Kekse in Form hebräischer Buchstaben, die ich zur Belohnung bekam. Als mein Hebräisch gut genug war, durfte ich in der Sjoel sogar einmal ein Stück aus dem Talmud vorlesen.
Ich verehrte meinen Großvater, er spielte eine viel wichtigere Rolle in meinem Leben als mein Vater, der die Glaubensregeln zwar nicht so genau einhielt, jedoch bei meiner Erziehung sehr streng auftrat. Wenn mein Vater von einer Geschäftsreise nach Hause kam, fragte er, ob ich mich gut benommen hatte. Hatte ich etwas Verbotenes getan, bekam ich eine Standpauke oder manchmal sogar Schläge.
Kurz vor Kriegsausbruch erwog mein Vater nach Amerika zu emigrieren – die Papiere für die Überfahrt mit der Holland-America-Line hatte er schon. Aber mein Großvater wollte nichts davon wissen und meine Mutter weigerte sich auch. Nach 1940 bekam das Geschäft meines Vaters einen Verwalter, jemanden, der im Auftrag der Deutschen die Leitung übernahm. Und obwohl mein Vater als Mitarbeiter des Judenrates noch eine Weile eine Sperre besaß, war ihm klar, dass wir nicht mehr lange in Sicherheit waren.
Sobald wir den Judenstern tragen mussten, ab Mai
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