Versteckt wie Anne Frank
1942, traf mein Vater konkrete Maßnahmen. Er ließ meinen Großvater in ein Altersheim aufnehmen. Dort würde er in Sicherheit sein, denn niemand erwartete, dass die Deutschen auch alte Leute nach Deutschland schicken würden. Man erzählte sich nämlich, man käme dort in ein Arbeitslager, und niemand konnte sich vorstellen, welche Arbeit Alte dort denn tun könnten. Am Anfang des Krieges kümmerte ich mich nicht groß um all die Dinge, die Juden nicht mehr durften. Als kleiner Junge fand ich den Judenstern sogar spannend. Meine Schwester und ich zogen manchmal unsere Jacken auf links, um dann in einem Laden Süßigkeiten zu kaufen, in dem Juden nicht mehr einkaufen durften.
Irgendwann im September 1942 besuchte uns Guus Schraven, ein Geschäftsfreund meines Vaters aus Venlo. Was damals genau besprochen wurde, weiß ich nicht, aber mein Vater sagte plötzlich: »Du fährst jetzt mit Onkel Guus mit dem Zug. Du tauchst unter, in Amsterdam ist es zu gefährlich für dich.« »Untertauchen«, das Wort hatte ich schon mal gehört, in den Wochen zuvor war es öfter gefallen. Die Nachricht traf mich sehr, ich begriff, dass wir auseinandergehen würden. Vater und Mutter schärften mir ein, dass ich im Zug und auch an meiner neuen Adresse meinen eigenen Namen auf gar keinen Fall nennen durfte. »Du heißt ab jetzt Maurice Jansen.« Ich würde nur vorübergehend untertauchen, und was sein müsse, müsse eben sein.
Nachdem ich ein paar Tage bei Onkel Guus in Nordlimburg geblieben war, brachte er mich zu einem Pfarrer nach Grubbenvorst. Der Pfarrer suchte für viele nichtjüdische und später auch jüdische Kinder aus dem Westen des Landes Unterkünfte bei armen Bauern, die gegen Bezahlung einen Kostgänger brauchen konnten. Mich brachte der Pfarrer zu den Theelens, einer Bauernfamilie mit drei Kindern. Er erzählte, ich sei ein Junge aus der Stadt, der auf dem Land zu Kräften kommen sollte. Das klang sehr glaubwürdig, ich war ziemlich mager. Die Familie Theelen zweifelte zunächst – nicht, weil sie keinen »fremden Jungen« hätte aufnehmen wollen, sondern weil sie meinte, ich passe nicht zu ihnen. Sie waren nur arme Bauern und ich kam aus einer so vornehmen Familie. »Wie können wir denn für so einen Jungen sorgen?«, fragten sie sich.
Ich passte mich schnell an das Bauernleben an. Ich freundete mich mit ihrem Sohn Bert an, der ein paar Jahre jünger war als ich. Die Dorfjungen waren unsere Spielkameraden, wir spielten gemeinsam Fußball, fuhren in Bollerwagen herum, ließen Drachen steigen und versteckten uns in den Spargelfeldern. Oft trieben wir uns auch in einer alten Schlossruine herum, wo wir spät abends im Dunkeln auf die »weißen Weiber« warteten, Nebelfetzen, die aufstiegen, wenn es kühl wurde, und die aussahen wie Gespenster. Wir lebten, als wäre der Krieg weit weg.
Der Rest unserer Familie war inzwischen auch untergetaucht. Allesamt in Limburg, jedoch getrennt voneinander. Eines Tages, etwa um ein Uhr, stand mein Vater vor der Tür, das Rad neben sich. Es war schönes Wetter, auf dem Gepäckträger nahm er mich mit zu einem Gebiet, das die »Heide« genannt wurde und am Dorfrand lag. Irgendwo unterwegs stiegen wir ab und setzten uns in die Böschung. Er drückte mich an sich. Dort, am Wegrand, empfand ich seine Nähe viel intensiver als jemals zuvor in Amsterdam. Am späten Nachmittag brachte er mich nach Hause. »Ich komme bald wieder«, sagte er.
Kurze Zeit später wurde mein Vater verraten und verhaftet. Er wurde abtransportiert, wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.
Nach der Verhaftung meines Vaters fand der Pfarrer, dass die Familie Theelen über meinen jüdischen Hintergrund informiert werden müsse. Vielleicht würden die Deutschen über meinen Vater meine Untertauchadresse herausfinden. »Wenn ihr es jetzt zu gefährlich findet, Maurice bei euch zu behalten«, sagte er, »bringe ich ihn woanders unter.«
»Maurice ist jetzt hier, wir lieben ihn und er bleibt auch hier«, antwortete Bauer Theelen. Sie wussten nun, dass sie sich um ein Kind kümmerten, das in Lebensgefahr war.
Kurz danach sagten sie mir, ich solle aufpassen, mich außer Haus niemals zu verplappern. Das galt nicht so sehr für die Nachbarn, die wussten, glaube ich, Bescheid. Womöglich vermutete das gesamte Dorf, dass ich ein Untertaucher war. In Grubbenvorst gab es noch viel mehr Untertaucher.
Die Familie Theelen warnte mich vor allem vor dem Dorfpolizisten, der vielleicht ein Handlanger des Bürgermeisters war,
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