Versteckt
Etwas hatte darauf herumgenagt, um ans Kno chenmark zu gelangen. Ich erkannte Zahnspuren.
Der Knochen ließ sich leicht mit den Händen auseinanderbrechen, so alt und morsch war er. Das beruhigte mich irgendwie. Noch konnte ich hoffen, dass sie aus der Zeit stammten, als Ben und Mary im Haus gewohnt hatten. Vielleicht hatten sie hier so etwas wie einen Tierfriedhof angelegt. An Casey dachte ich in diesem Zusammenhang lieber nicht.
Wir sahen uns noch eine Weile um. Langsam wurden die Fliegen zur Plage. Von Casey keine Spur, aber ich entdeckte etwas Seltsames an der Wand zu unserer Rechten. Einen Haufen platt gedrückter Äste und Zweige, auf dem eine alte, mottenzerfressene karierte Decke lag, die ebenfalls von getrocknetem Seetang und Knochen bedeckt war. Hatte hier jemand geschlafen? So viel zur Tierfriedhoftheorie.
Steven sah sich die Knochen genauer an.
»Der ist von einer Katze«, sagte er.
»Woher weißt du das?«
»Aus dem Biologieunterricht. Und das hier sind Vögel. Große Vögel, vielleicht Möwen.«
»Und Hunde?«
Kleine Knochen knackten unter meinen Sohlen.
»Vielleicht. Die haben wir nicht seziert. Hier sind jedenfalls keine Schädel. Oder Kieferknochen.«
Er durchwühlte einen Haufen neben dem Tümpel. Die Knochen raschelten wie eine Tüte voller Holzdübel.
»Der könnte von einem Hund sein. Der Oberschenkel. Ja, das wäre möglich.«
»Und Menschen?«
Im Schein der Taschenlampe war sein Gesicht leichenblass.
»Nein, keine Menschen.«
»Ben und Mary vielleicht?«
»Nein. Keine Menschen. Gott sei Dank.«
Eine frische Blutspur führte vom Tümpel aus in die entgegengesetzte Richtung. Ein paar Meter weiter fanden wir erneut verschmierte Blutstropfen. Als hätte man Casey über den Boden geschleift. Sie blutete also immer noch. Nicht stark, aber stetig.
Hier unten gab es nicht nur Schmeißfliegen. Ich spürte einen schmerzhaften Stich an der Wange und einen weiteren am Hals. Vergebens schlug ich nach den Insekten und hätte dabei fast die Taschenlampe fallen gelassen, deren Strahl über die feuchte graue Decke zuckte und dabei den Raum unmittelbar vor mir in Dunkelheit hüllte.
Das machte mir Angst.
Wir durften nicht riskieren, eine weitere Taschenlampe zu verlieren.
Ich riss mich zusammen und suchte die Wände methodisch ab, wobei ich den Blutspuren folgte. Endlich entdeckte ich, wonach ich gesucht hatte: ein weiteres Loch in der Wand, ähnlich dem, durch das wir den Raum betreten hatten.
Steven schlug ebenfalls nach den Insekten. Sie stürzten sich wie Kamikazepiloten auf uns und landeten mehrere Volltreffer. Ich klatschte meine Handfläche gegen die Stirn. Am liebsten hätte ich die Mistgabel fallen gelassen und wäre mit rudernden Armen davongerannt. Ich stand kurz davor, in Panik zu geraten. Panik war tödlich.
»Gehen wir weiter. Da lang.«
Kurz nach der Öffnung weitete sich der Tunnel auf die Größe eines Minenschachtes. Man konnte aufrecht, wenn auch nur gebückt gehen. Aber immer noch besser als kriechen.
Und was noch besser war: Wir passten nebeneinander durch den Schacht, und jemanden an seiner Seite zu spüren verlieh einem ein Gefühl der Sicherheit – besonders wenn dieser jemand einen Axtgriff dabeihatte, mit dem man locker einen Mann erschlagen konnte.
Wir kamen schnell voran. Im Prinzip war es ein einziger langer Gang. Felswände, so weit das Auge reichte. Beeindruckend. Ich schätzte, dass der Tunnel bei den Klippen anfing und dann landeinwärts führte. Wie viele dieser Höhlen mochte es wohl noch entlang der Küste geben? Ob die anderen noch verzweigter und größer waren?
Ein Versteck, in dem man sich ewig verkriechen konnte – vorausgesetzt, man ertrug den kalten Winter und konnte sich Wasser und Nahrung beschaffen.
Hier wurde es niemals warm. Im Sommer war der Fels schön kühl, im Winter war es die Hölle. Wer auch immer Casey entführt hatte – es musste ein zäher Bursche sein, wenn er wirklich hier unten hauste.
Wie gesagt – eine Zeit lang ging es schnurstracks geradeaus. Dann wurde es kompliziert. Wir erreichten eine Weggabelung. Beide Tunnel hatten dieselbe Höhe und Breite.
»Scheiße«, sagte Steven.
»Ja, Scheiße.«
Wir sahen uns nach Blutspuren um – nichts. Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht war Casey nicht allzu schlimm verletzt und hatte bereits wieder aufgehört zu bluten. Andererseits – tote Menschen bluteten auch nicht mehr.
Wir mussten eine Entscheidung treffen, und das in einer Situation, in der man lieber keine Wahl
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