Verstohlene Kuesse
schützenden Säulen und spähte die düstere Hintertreppe hinab. Swan war nirgendwo zu sehen. Es schien, als wäre er in den dichten Schatten einfach untergetaucht. Sie umfasste das Geländer und ging langsam und vorsichtig die schmale, gewundene Treppe hinunter. Als eine der Stufen unter ihren Schritten leise knarrte, hielt sie erschreckt den Atem an.
Doch Swan tauchte nirgendwo auf.
Vorsichtig ging sie weiter, am Ballsaal vorbei bis hinab in den untersten Stock, wobei sie sich sorgsam mit den Spitzen ihrer Tanzschuhe vorwärts tastete. Es wäre höchst unangenehm, wenn sie dabei entdeckt würde, wie sie die Hintertreppe von Mirandas Stadthaus hinunterpurzelte. Edison wäre ohne Zweifel mehr als verärgert über ihre Unvorsichtigkeit.
Kurze Zeit später hatte sie einen kleinen Flur erreicht, von dem aus man in den großen Garten kam. Durch die Seitenfenster konnte sie die dunklen Umrisse der Hecken sehen.
Sie lauschte angestrengt. Der Ballsaal lag inzwischen über ihr, und immer noch hörte sie leise Musik. Aus der Eingangshalle wehten die Stimmen ankommender und abfahrender Gäste an ihr Ohr, doch sie klangen weit entfernt.
Durch das Fenster fiel genügend Mondlicht, so dass sie die Tür unmittelbar vor sich sah. Wahrscheinlich der Eingang der Bibliothek. Oder eines Arbeitszimmers. Eines Raums, in dem sich ein wertvolles Buch sicher gut verstecken ließ.
Sie überlegte, weshalb Edison während des Balls nicht daran gedacht hatte, sich das Haus seiner Gastgeberin einmal genauer anzusehen. Nun, da ihr der Gedanke gekommen war, kam er ihr vollkommen logisch vor.
Es gab keinen Grund, weshalb sie die Aufgabe nicht selbst übernehmen sollte, dachte sie. Wie schwer konnte es schon sein, sich in einer Bibliothek nach einem alten Schriftstück umzusehen?
Ehe sie den Mut verlieren konnte, drehte sie vorsichtig den Knauf der Tür. Falls jemand im Zimmer wäre, der sich an ihrem unaufgeforderten Eintreten stören würde, könnte sie immer noch behaupten, sie hätte sich während des Gangs auf die Toilette offenbar im Weg geirrt.
Sie öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Mondlicht fiel durch eine Reihe hoher griechischer Fenster und zeichnete geometrische Formen auf den Teppich. Die Wände lagen in tiefer Dunkelheit, aber der große Globus, die dekorativen klassischen Büsten und der breite Schreibtisch verrieten ihr, dass sie sich tatsächlich in einer Bibliothek befand.
Auf den Regalen entlang der Wände waren allerdings nur sehr wenige Bücher aufgereiht. Offenbar hielt es Miranda mit der aktuellen Mode, der zufolge Bücher kein allzu bedeutender Bestandteil einer ordnungsgemäß dekorierten Bibliothek waren.
Emma dachte, am besten finge sie bei ihrer Suche mit dem Schreibtisch an. Er ragte rechteckig aus einer vom Mondlicht beschienenen Ecke auf und erschien ihr geradezu prädestiniert als Versteck für ein gestohlenes Buch.
Glücklicherweise verursachten ihre weichen Schuhe auf dem dicken Teppich nicht das leiseste Geräusch, als sie verstohlen den Raum durcheilte, hinter den Schreibtisch trat und die erste Schublade öffnete. Enttäuschung wallte in ihr auf, als sie nur ein paar Federn und Tintenflaschen darin fand.
Und auch die nächsten beiden Schubladen enthüllten ihr nichts Geheimnisvolleres als einen Stapel Papier und eine Ansammlung von Visitenkarten und Einladungen.
Die unterste Schublade jedoch war abgesperrt.
Vor Aufregung wippte sie auf den Zehenspitzen. In der letzten Schublade musste irgendetwas Wichtiges sein. Weshalb sonst hätte Miranda sich die Mühe machen sollen abzuschließen?
Vorsichtig zog sie eins der grünen Seidenblätter aus ihrer eleganten Frisur. Die Nadel, mit der das Blatt befestigt war, wäre genau das richtige Werkzeug.
Es wäre nicht das erste Mal, dass sie eine Schreibtischschublade mit einer Haarnadel öffnete. Während der letzten Monate ihres langen Lebens war Granny Greyson immer wirrer und vergesslicher geworden und hatte die unerschütterliche Überzeugung entwickelt, dass der örtliche Pfarrer entschlossen war, ihr ihre wenigen Wertsachen zu stehlen. Wann auch immer er zu Besuch gekommen war, hatte Granny ihre Brosche, ihren Hochzeitsring und die Perlen ihrer Mutter in der Schublade ihres Schreibtischs versteckt, hatte jedesmal anschließend den Schlüssel verlegt und war außer sich gewesen vor Sorge und Aufregung, bis Emma das Schloss geknackt und die Wertsachen wieder hervorgeholt hatte.
Nun schob Emma ihre Nadel in das Schloss von Mirandas
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