Verstohlene Kuesse
Augen zu lassen, lehnte sich Edison langsam zurück. »Diese Tatsache bietet Ihnen ohne Zweifel einen gewissen Schutz. Aber trotzdem dürfen Sie keine unnötigen Risiken eingehen, Emma. Hören Sie ihr zu. Hören Sie sich ihren Vorschlag an. Bringen Sie so viel wie möglich in Erfahrung, aber reizen Sie sie nicht.«
»Glauben Sie mir, Sir, nun, da sie unter Verdacht steht, eine zweifache Mörderin zu sein, werde ich bestimmt aufpassen und nichts Übereiltes, Unbedachtes tun.«
»Ich wäre wesentlich beruhigter, wenn unsere Definitionen der Begriffe unbedacht und übereilt nicht vollkommen verschieden wären«, seufzte er.
»Ein Mann, der mit bekannten Schmugglern Geschäfte macht und der nicht zögert, mitten in der Nacht am Hafen einen gefährlichen Schläger zu treffen, ist wohl kaum in der Position, mir Vorhaltungen zu diesem Thema machen zu können«, antwortete sie streng.
Edison sah sie mit einem schuldbewussten Grinsen an. »Wissen Sie, mit Ihrer Impertinenz haben Sie auf Dauer als bezahlte Gesellschafterin sicher nicht den gewünschten Erfolg.«
»Mit ein bisschen Glück sind meine Finanzen bald wieder im Lot, und ich muss nach Beendigung meiner Anstellung bei Ihnen gar nicht wieder auf Arbeitssuche gehen.« Sie blickte aus dem Fenster. »Die Kutsche fährt langsamer. Gleich sind wir da.«
Edison blickte auf die Reihe hübscher Stadthäuser. »Mir ist klar, dass ich allmählich klinge wie Sie, wenn Sie eine Ihrer düsteren Vorahnungen haben, aber die ganze Sache gefällt mir einfach nicht.«
»Was soll dabei schon schief gehen?«
»Falls Sie nichts dagegen haben, denke ich lieber nicht über all die Dinge nach, die schief gehen könnten. Die Liste ist einfach zu lang.« Edison biss die Zähne zusammen. »Also gut. Ich werde hier in der Kutsche warten, solange Sie bei ihr sind. Aber, Emma, Sie müssen mir versprechen, sobald Sie auch nur das geringste Unbehagen verspüren, verlassen Sie das Haus.«
»Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Wie von Edison angewiesen, brachte der Kutscher die Droschke ein paar Häuser vor dem endgültigen Ziel zum Stehen. Emma stieg behände aus und ging den Rest des Wegs zu Fuß.
Die Straße wirkte im Licht des Nachmittags vollkommen anders als in der Nacht des Balls. Damals, so erinnerte sich Emma, hatten überall elegante Kutschen gestanden, und auf der Eingangstreppe zu Mirandas Haus hatte sich die teuer gekleidete Gästeschar gedrängt. Sämtliche Fenster des Hauses waren hell erleuchtet gewesen, aus dem Ballsaal hatte Musik geklungen, und überall hatte eine beinahe fiebrige Geschäftigkeit geherrscht.
Heute hingegen strahlte Mirandas Residenz nicht das geringste Leben aus, dachte Emma, während sie die Stufen erklomm und den Klopfer betätigte. In der Tat erschien sie ihr geradezu unnatürlich ruhig.
Ein kalter Schauder rann ihr über den Rücken, und ihre Hände kribbelten. Nicht, bitte , dachte sie. Nicht schon wieder eine Vorahnung. Davon habe ich in letzter Zeit mehr als genug gehabt.
Sie blickte über ihre Schulter, während sie darauf wartete, dass man ihr öffnete. Die beiden Nachbarhäuser sahen ebenso leblos aus. Natürlich, es war kurz vor fünf. Die Stunde, in der man für gewöhnlich im Park flanieren ging.
In diesem Augenblick saßen die meisten Mitglieder der sogenannten besseren Gesellschaft auf den Rücken kostbarer Pferde oder in den Polstern teurer Kutschen und paradierten über baumbestandene Alleen. Es war die Art Vergnügen, wie sie Miranda sicherlich genoss. Dass sie trotzdem den ganzen Nachmittag auf Emmas Besuch hatte warten wollen, war ein weiterer Beweis für ihre Not. Es machte niemand auf. Emma bewegte die Finger in den Handschuhen, doch das Kribbeln blieb.
Sie klopfte abermals und lauschte angestrengt auf Schritte hinter der Tür.
Ein paar Minuten später musste sie sich eingestehen, dass offenbar niemand öffnen würde. Vielleicht war Miranda doch nicht da? Aber irgendjemand müsste da sein, hätte nicht das gesamte Personal gleichzeitig die Gelegenheit zu etwas Freizeit genutzt.
Immer noch hatte sie eine Gänsehaut. Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück und blickte zu den Fenstern im oberen Stock. Sämtliche Vorhänge waren zugezogen, stellte sie seufzend fest.
Es war unmöglich, das ungute Gefühl zu ignorieren, von dem sie beim Verlassen der Mietdroschke beschlichen worden war. Irgendetwas stimmte nicht in diesem Haus. Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief eilig zur Kutsche zurück. Höchste Zeit, etwas zu tun.
Weitere Kostenlose Bücher