Verstoßen: Thriller (German Edition)
geräuschlos Tränen über die Wangen.
Maier zog sich die Biwakmütze vom Kopf. Blieb schräg hinter Sven stehen. Das kleine Kind auf dem Tisch. Der Vater, der immer wieder die lebenswichtigen Körperfunktionen kontrollierte. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals etwas derart Ergreifendes, ja Herzzerreißendes gesehen zu haben.
»Schlafmittel«, sagte Sven schluchzend. »Das muss es sein. Das muss es einfach sein …«
Hörbar atmete Maier aus.
»Ich glaube, sie haben ihn ruhiggestellt«, fügte Sven hinzu. »Diese Schufte. Diese dreckigen Schufte.« Er beugte sich über seinen Sohn, als wollte er ihn mit dem eigenen Körper vor allen bösen Einflüssen der Außenwelt beschützen. Als wollte er ihn mit seiner Liebe panzern, so umarmte Sven den schlafenden Kleinen. Strich ihm über die blonden Locken, küsste vorsichtig seine feuchte Stirn.
Maier stand wieder am Küchenfenster und schaute auf die Zufahrt hinaus. »Wir müssen hier weg«, sagte er knapp. »Komm.«
26
»Hier bei Elias.«
Susan hielt den Telefonhörer mit beiden Händen. Bei Elias, das bedeutete wahrscheinlich, dass die Person am anderen Ende eine Haushälterin oder ein Kindermädchen war. »Guten Tag, hier spricht Susan Staal. Ist Walter Elias auch zu Hause?«
»Worum geht es?«
Susan setzte sich gerade hin. Dies war das erste ihrer Telefonate, bei dem der Vorname Walter am anderen Ende eine mehr oder weniger bestätigende Reaktion hervorrief. »Es geht um meinen Vater, Geran Staal«, sagte sie. »Er ist vor Kurzem gestorben, und da Walter Elias und mein Vater früher befreundet waren, dachte ich, er möchte das vielleicht wissen.«
»Herzliches Beileid. Ich werde es ihm ausrichten.«
Vielleicht war diese Frau doch mehr als eine Haushälterin. Oder wollte gern diesen Eindruck erwecken. »Ich würde es ihm lieber selbst sagen.«
Kurze Stille am anderen Ende. »Einen Moment, bitte«, hörte sie dann.
Gedämpftes Geflüster. Die Frau hielt ihre Hand vor die Sprechmuschel.
»Walter Elias.«
»Guten Tag, mein Name ist Susan Staal. Ich bin die Tochter von Geran Staal.« Bewusst legte sie eine kurze Pause ein.
Der Mann am anderen Ende reagierte nicht.
»Sie waren früher öfter bei uns zu Besuch, wenn ich mich nicht täusche.«
»Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wer Sie sind. Ich fürchte, Sie haben den Falschen erwischt.«
Zitterte seine Stimme? Zögerte er? Oder bildete sie sich das nur ein?
»Sie waren doch mit meinem Vater befreundet, Geran Staal, oder?«
»Nein, tut mir leid. Ich kenne keinen Geran Staal. Es tut mir sehr leid für Sie.«
»Kurz zu meiner Information: Sie haben in den achtziger Jahren doch in Den Bosch gewohnt, oder?«
Wieder ein paar Sekunden Schweigen. »Ja, das ist korrekt. Aber ich habe Ihren Vater nicht gekannt. Nochmals, Sie täuschen sich.«
»Das muss dann wohl so sein, ja. Entschuldigen Sie bitte die Störung.«
Sie legte auf und starrte vor sich hin.
War das möglich, dass sie einen anderen Walter Elias an die Strippe bekommen hatte? Sie schüttelte den Kopf. Nicht nur hatte er zugegeben, in Den Bosch gewohnt zu haben, auch die Stimme war ihr bekannt vorgekommen. Es konnte nur der alte Freund ihres Vaters gewesen sein.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht war dies genau der richtige Moment, genau der richtige Anlass, die Sache ein für alle Mal in Ordnung zu bringen. Sie hatte nichts zu verlieren.
Gar nichts.
Ihr Zeigefinger wanderte über die Notizen auf ihrem Block. Rasch hatte sie gefunden, was sie suchte: die Adresse von Walter Elias.
27
Maier lenkte den Laguna auf die A10 Richtung Paris. Das kleine Poitiers, wo Sven seinen alten Freund hatte aufsuchen wollen, lag hinter ihnen. Die Praxis gab es noch, auch den Assistenten kannte Sven noch von früher, aus der Zeit, als er hier gelebt und gearbeitet hatte. Benoît selbst hingegen war aus der Studentenstadt weggezogen. Dem Assistenten zufolge hatte der Tierarzt sich vor einem Jahr in eine Gemeinschaftspraxis eingekauft, in der Kleinstadt Le Chesnay, einen Steinwurf östlich von Paris.
Dorthin waren sie nun unterwegs.
Wenn es nach Maier gegangen wäre, wären sie gleich bis in die Niederlande durchgefahren. Jede weitere Minute in Frankreich war aus seiner Sicht eine zu viel. Von Poitiers aus waren es sieben bis acht Stunden Fahrt nach Hause.
Aber Sven wollte nicht. Er hatte ohnehin schon viel Blut verloren. Was ihm nicht viel ausmachte, es war ihm bloß ein bisschen schwindlig zumute. Aber die Wunde an sich bereitete ihm Sorgen.
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