Verteidigung
Jerry Alisandros, auf den irren Reigen eingelassen und schon sein Geld gezählt. Verschwendete er, während er sich in der Entzugsklinik erholte, auch nur einen Gedanken an das Verfahren und daran, dass David jetzt in der Verhandlung die Scherben aufkehren musste, während sich Wally und Oscar die Wunden leckten? Nein, entschied David, Wally machte sich wegen des Prozesses keine Sorgen. Er hatte ganz andere Sorgen – seine Alkoholsucht, seine Schulden, sein Job, seine Kanzlei.
Der nächste Zeuge war ein Professor, der in Harvard forschte und nach eingehender Prüfung einen sehr eindeutigen Artikel im New England Journal of Medicine veröffentlicht hatte. David hatte keine Fragen zu seiner Qualifikation.
»Euer Ehren, wenn er in Harvard war, ist er bestimmt hervorragend qualifiziert. Ich bin sicher, er ist eine Koryphäe«, sagte er, was mit einem Schmunzeln quittiert wurde.
Glücklicherweise wussten die Geschworenen nicht, dass David in Harvard Jura studiert hatte, sonst wäre der Schuss nach hinten losgegangen. Harvard-Absolventen, die sich über andere Harvard-Absolventen mokierten, kamen in Chicago nicht gut an.
»Ganz schön dumm«, schrieb die Anwaltsassistentin.
David antwortete nicht. Es war fast sechzehn Uhr, und er wollte nur noch weg. Der Professor schwadronierte immer weiter über seine Forschungsmethoden. Nicht ein einziger Geschworener hörte zu. Die meisten schienen ihr Gehirn abgeschaltet zu haben, wie betäubt von dieser durch und durch sinnlosen Ausübung ihrer Bürgerpflicht. Wenn das die Säulen der Demokratie waren … Gott bewahre.
David fragte sich, ob sie bereits über den Fall sprachen. Tagtäglich redete Richter Seawright ihnen vormittags und abends ins Gewissen, keine unzulässigen Kontakte aufzunehmen, sich nicht in der Zeitung oder im Internet über den Fall zu informieren und jede Unterhaltung darüber zu unterlassen, bis alle Beweismittel vorgelegt waren. Es gab zahlreiche Studien über das Verhalten von Geschworenen, die Dynamik der Entscheidungsfindung in der Gruppe und so fort, und die meisten kamen zu dem Schluss, dass die Geschworenen es gar nicht erwarten konnten, über die Anwälte, die Zeugen und sogar den Richter zu tratschen. Sie neigten dazu, sich in Zweiergruppen zusammenzufinden, ihren Sympathien folgend Cliquen und Lager zu bilden und vor der Zeit mit den Beratungen zu beginnen. Das taten sie jedoch selten als ganze Gruppe. Meistens hielten sie ihre Privatbesprechungen vor den anderen geheim.
David blendete seinen Harvard-Kollegen aus und blätterte ein paar Seiten in seinem Block um. Dann feilte er weiter an einem Vorentwurf für seinen Brief.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich vertrete die Familie von Thuya Khaing, dem fünfjährigen Sohn zweier myanmarischer Einwanderer, die sich legal hier aufhalten.
Vom 20. November bis zum 19. Mai dieses Jahres war Thuya Patient im Lakeshore Children’s Hospital hier in Chicago. Er hatte eine beinahe tödliche Menge Blei aufgenommen und musste mehrfach künstlich beatmet werden. Nach Aussage der behandelnden Ärzte – diesem Schreiben ist eine Zusammenfassung der Berichte beigefügt – hat Thuya schwere, dauerhafte Hirnschäden davongetragen. Seine Lebenserwartung beträgt wenige Jahre, möglicherweise bis zu zwanzig.
Die Quelle des von Thuya aufgenommenen Bleis ist ein in China hergestelltes und von Ihrem Konzernunternehmen Gunderson Toys importiertes Spielzeug. Es handelt sich um einen Halloweenartikel mit der Bezeichnung Nasty Teeth. Bei der toxikologischen Untersuchung durch Dr. Biff Sandroni, dessen Name Ihnen bekannt sein dürfte, stellte sich heraus, dass diese Vampirzähne mit verschiedenen bunten Farben beschichtet sind, die einen hohen Bleigehalt aufweisen. Eine Kopie des Berichts von Dr. Sandroni ist zur gefälligen Lektüre beigelegt.
Weiterhin finden Sie in der Anlage eine Kopie der Klage gegen Sonesta Games, die ich demnächst beim zuständigen Bundesgericht in Chicago einreichen werde. Sollten Sie Interesse an Gesprächen
»Kreuzverhör, Mr. Zinc?«, unterbrach ihn der Richter. Wieder erhob sich David kurz. »Nein, Euer Ehren.«
»Gut. Es ist jetzt 17.15 Uhr. Das Gericht vertagt sich auf neun Uhr morgen früh, die Geschworenen halten sich bitte an die bereits bekannten Regeln.«
Wally saß in einem weißen Baumwollbademantel im Rollstuhl, seine knubbeligen Füße quollen aus Segeltuchpantoffeln. Ein Pfleger schob ihn ins Besucherzimmer, wo David an einem großen Fenster stand und auf
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