Verteidigung
nicht finden. Davids Bemerkung schien er nicht gehört zu haben.
»Hören Sie auf damit«, knurrte Abner. »Andernfalls muss ich Sie bitten zu gehen.«
»Entschuldigung.« David hielt den Mund. Er hatte keine Lust zu gehen, weil er keine Ahnung hatte, wohin. Der dritte Schluck brachte die Wende und entspannte die Atmosphäre etwas.
Miss Spence öffnete die Augen und sah sich um. Langsam und mit einer uralten Stimme sagte sie: »Ja, ich komme oft her. Von Montag bis Samstag. Und Sie?«
»Ich bin zum ersten Mal hier«, antwortete David, »aber es wird wohl nicht zum letzten Mal gewesen sein. Ab heute werde ich vermutlich mehr Zeit zum Trinken haben, und mehr Gründe auch. Prost.« Er beugte sich zu ihr hinüber und berührte mit seinem Bierglas sehr, sehr vorsichtig ihr Glas.
»Prost«, sagte sie. »Und warum sind Sie hier, junger Mann?«
»Das ist eine lange Geschichte, die immer länger wird. Warum sind Sie hier?«
»Oh, ich weiß nicht. Vermutlich aus reiner Gewohnheit. Sechs Tage die Woche seit … seit wann, Abner?«
»Seit mindestens zwanzig Jahren.«
Offenbar wollte sie Davids lange Geschichte nicht hören. Sie trank noch einen Schluck und sah aus, als würde sie gleich einschlafen. Auch David war plötzlich furchtbar müde.
5
Helen Zinc erreichte den Trust Tower wenige Minuten nach zwölf. Während der Fahrt in die Stadtmitte hatte sie immer wieder versucht, ihren Mann anzurufen, doch ohne Erfolg. Um 9.33 Uhr hatte er ihr eine SMS geschickt, in der er versicherte, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, und um 10.42 hatte sie seine zweite und letzte SMS erhalten, in der stand: »Ales in Ordnung. Bin ok. Mach dir keine Sogen.«
Helen stellte ihr Auto in einer Parkgarage ab, eilte die Straße hinunter und betrat das Atrium des Gebäudes. Wenige Minuten später stieg sie im dreiundachtzigsten Stock aus dem Fahrstuhl. Die Empfangsdame führte sie in einen kleinen Konferenzraum, wo sie warten sollte. Man sah es bei Rogan Rothberg nicht gern, wenn jemand das Gebäude mittags verließ, um etwas zu essen. Gutes Essen und frische Luft waren sozusagen tabu. Gelegentlich lud einer der Seniorpartner einen Mandanten in ein Restaurant ein, zu einem langen, teuren Mittagessen, das dem Mandanten anschließend mithilfe kreativer Formulierungen und überzogener Honorare in Rechnung gestellt wurde. Doch die – ungeschriebene – Regel war, dass die angestellten Anwälte und Juniorpartner sich ein Sandwich aus dem Automaten holten. An einem normalen Arbeitstag nahm David sowohl sein Frühstück als auch sein Mittagessen am Schreibtisch zu sich, und es war auch nichts Ungewöhnliches, dass er dort zu Abend aß. Einmal hatte er Helen gegenüber damit geprahlt, drei verschiedenen Mandanten je eine Stunde in Rechnung gestellt zu haben, während er ein Thunfisch-Sandwich und Kartoffelchips mit einer Diätlimonade hinuntergespült hatte.
Sie hatte damals gehofft, dass er nur einen Scherz gemacht hatte.
Seit ihrer Hochzeit hatte David mindestens fünfzehn Kilo zugenommen – wie viel genau, wusste sie nicht. Früher war er Marathon gelaufen, und das zusätzliche Gewicht stellte noch kein Problem dar. Aber die ungesunde Ernährung in Kombination mit zu wenig Bewegung beunruhigte beide. Im siebenundneunzigsten Stock besaß die Kanzlei ein schönes, leeres Fitnessstudio mit toller Aussicht, das der Gesundheit dienen sollte, aber von niemandem benutzt wurde. Bei Rogan Rothberg war die Stunde zwischen zwölf und ein Uhr so wie alle anderen Tages- oder Nachtstunden: Es wurde gearbeitet.
Helen war zum zweiten Mal in fünf Jahren in der Kanzlei. Die Lebenspartner der Anwälte wurden nicht ausgesperrt, aber auch nicht eingeladen. Für Helen hatte es nie einen Grund gegeben zu kommen. Angesichts von Davids Horrorgeschichten hatte sie auch keine Lust empfunden, ihn hier zu besuchen oder Zeit mit seinen Kollegen zu verbringen. Zweimal im Jahr schleppten sie und David sich zu irgendwelchen Firmenveranstaltungen von Rogan Rothberg, die den Zusammenhalt unter den ausgebeuteten Anwälten und ihren vernachlässigten Partnern fördern sollten. Solche Aktivitäten arteten grundsätzlich zu unschönen Saufgelagen aus, mit einem Benehmen, das peinlich und unmöglich zu vergessen war. Man nehme eine Horde überarbeiteter Anwälte und fülle sie mit Alkohol ab – ein todsicheres Rezept für ein Desaster.
Vor einem Jahr, auf einem Partyboot zwei Kilometer vom Ufer entfernt auf dem Lake Michigan, hatte Roy Barton versucht, sie zu begrapschen.
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