Verteidigung
Wenn er nicht so betrunken gewesen wäre, wäre es ihm vielleicht sogar gelungen, und das hätte zu ernsten Schwierigkeiten geführt. Eine Woche lang hatte sie mit David darüber gestritten, was sie tun sollten. David wollte seinen Chef zur Rede stellen und sich dann beim Ethikausschuss der Kanzlei beschweren. Helen war dagegen, sie war der Meinung, das würde Davids Karriere schaden. Es gab keine Zeugen, und vermutlich konnte sich Barton gar nicht mehr daran erinnern. Irgendwann hörten sie auf, über den Vorfall zu reden. In den fünf Jahren hatte sie so viele Geschichten über Roy Barton gehört, dass David den Namen seines Chefs nicht mehr aussprach, wenn er zu Hause war.
Und plötzlich war er da. Zähnefletschend betrat Roy den kleinen Konferenzraum. »Helen, was geht hier vor?«, fragte er.
»Das würde ich auch gern wissen«, gab sie zurück. Mr. Barton, wie er sich gern nennen ließ, hatte die Angewohnheit, seine Gesprächspartner zu überfahren, indem er sie anbrüllte und in Verlegenheit brachte. Aber nicht mit ihr.
»Wo ist er?«, bellte er.
»Sagen Sie es mir«, erwiderte sie.
Lana, die Sekretärin, und Al und Lurch aus dem Fahrstuhl kamen gemeinsam herein, als hätten sie ihre Vorladung alle zur gleichen Zeit bekommen. Während Roy die Tür schloss, stellte er die drei hastig vor. Helen hatte oft mit Lana telefoniert, kannte sie aber nicht persönlich.
Roy sah Al und Lurch an und befahl: »Sie erzählen jetzt ganz genau, was passiert ist.« Mit vereinten Kräften gelang es den beiden, ihre Version von David Zincs letzter Fahrt im Aufzug zu schildern, und sie brauchten nicht viele Worte, um ein recht klares Bild von einem aufgewühlten Mann zu zeichnen, der schlicht durchgedreht war. Er habe geschwitzt, schwer geatmet, sei blass gewesen und dann mit dem Kopf voran wieder in den Fahrstuhl gehechtet und auf dem Boden gelandet. In dem Moment, in dem sich die Türen schlossen, hätten sie ihn lachen hören.
»Als er heute Morgen aus dem Haus ging, war er völlig in Ordnung«, versicherte ihnen Helen, als wollte sie betonen, dass nicht sie, sondern die Kanzlei schuld war an Davids Zusammenbruch.
»Sie da«, bellte Roy in Richtung Lana. »Sie haben mit ihm gesprochen!«
Lana hatte sich Notizen gemacht. Sie habe zweimal mit ihm gesprochen, dann sei er nicht mehr ans Telefon gegangen. »Bei unserem zweiten Gespräch hatte ich den Eindruck, dass er trank.
Seine Aussprache war etwas undeutlich. Einige Silben waren kaum zu verstehen.«
Roy starrte Helen an, als wäre sie an allem schuld. »Wo ist er hin?«
»In seine Stammkneipe natürlich. Dahin, wo er immer hingeht, wenn er um 7.30 Uhr morgens ausrastet und sich besaufen will.«
Es folgte ein verlegenes Schweigen. Helen Zinc hatte offenbar kein Problem damit, Mr. Barton freche Antworten zu geben. Die anderen schon.
»Trinkt er zu viel?«, fragte Mr. Barton etwas leiser.
»Er hat keine Zeit zum Trinken. Er kommt um zehn oder elf Uhr abends nach Hause, trinkt manchmal ein Glas Wein, und dann schläft er auf dem Sofa ein.«
»Geht er zu einem Psychiater?«
»Warum? Weil er hundert Stunden pro Woche arbeitet? Ich dachte, das wäre hier normal. Ich bin ja der Meinung, ihr müsstet alle mal zu einem Psychiater.«
Wieder eine Pause. Roy hatte nicht die geringste Chance, was nicht sehr oft vorkam. Al und Lurch starrten den Tisch an und bemühten sich krampfhaft, ein Grinsen zu unterdrücken. Lana sah aus wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerferlicht und war offenbar der festen Überzeugung, dass Roy sie gleich feuern würde.
»Dann haben Sie also keine Informationen, die uns weiterhelfen könnten?«, fragte Roy.
»Nein. Und offenbar haben Sie keine Informationen, die mir weiterhelfen könnten, stimmt’s, Roy?«
Roy hatte genug. Er kniff die Augen zusammen, presste die Kiefer aufeinander und wurde knallrot. »Früher oder später wird er schon wieder auftauchen, gesund und munter. Er wird in ein Taxi steigen und nach Hause fahren. Zuerst wird er zu Ihnen zurückkriechen, und dann wird er zu uns zurückkriechen. Er bekommt noch eine Chance, verstanden? Morgen früh um Punkt acht Uhr will ich ihn in meinem Büro sehen. Nüchtern. Und er muss sich entschuldigen.«
Plötzlich schossen Helen die Tränen in die Augen. Sie fuhr sich über die Wangen und sagte mit brechender Stimme: »Ich muss ihn finden. Ich muss wissen, ob es ihm gut geht. Können Sie mir helfen?«
»Fangen Sie an zu suchen«, erwiderte Roy. »Im Zentrum von Chicago gibt es Tausende
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