Vertrau deinem Herzen
froh, dass er vor Callie im Kajak saß, einfach weiter geradeaus gucken konnte und sie nicht ansehen musste. Ihr gemeinsames Paddeln wurde immer besser. Beinahe jeden Tag erkundeten sie mit dem Kajak stundenlang neue Ecken des felsigen, bewaldeten Seeufers. Anfangs hatte seine Mutter darauf bestanden, dass sie in Sichtweite blieben, aber als sie sah, wie umsichtig sie waren, ließ sie ihnen freie Hand. „Es ist nicht das Wasser“, gab er zu. „Ich mag nur nicht, wenn es über meinen Kopf geht.“
„Bei mir heißt das, dass du Angst vor Wasser hast.“
„Und wenn schon“, gab er zurück.
„Dann sag ich dir, dass du das überwinden sollst“, sagte sie leichthin. „Glaub mir – es gibt auf der Welt Schlimmeres als Wasser.“
„Was? Beagle zum Beispiel?“ Aaron musste diese kleine Spitze einfach loswerden.
„Es hat einen Grund, wieso ich Angst vor Hunden habe.“
„Und welchen?“
Das Kajak schwankte, als sie sich anders hinsetzte.
Aaron ließ beinahe sein Paddel fallen, als er sich am Bootsrand festhielt. „Hey, immer vorsichtig!“
„Mach dir nicht ins Hemd!“, sagte sie. „Ich werd uns schon nicht umwerfen. Ich will dir nur was zeigen. Pass gut auf.“
Aaron nahm das Paddel wieder richtig in die Hand. Dann drehte er sich um. Die dicke Schwimmweste schränkte seine Bewegungen ein, aber er schaffte es trotzdem, sich ganz zu Callie umzudrehen.
Sie hatte ein Bein auf den Rand des Kajaks gelegt und die Jogginghose bis zum Knie aufgerollt. „Deshalb habe ich Angst vor Hunden.“
Aaron wurde ein wenig seekrank, als er den dicken rot schimmernden Schaden betrachtete. Frankensteins Narben zogen sich über ihr Knie, wanden sich wie Bergstraßen in alle Richtungen. Auf beiden Seiten der Kniescheibe waren kleine Löcher zu sehen.
„Du bist von einem Hund gebissen worden“, sagte er.
„Zerfleischt“, korrigierte sie und zog das Hosenbein wieder bis zum Knöchel. „Das Wort ist zerfleischt. Ein Hund hat mich zerfleischt.“
Aaron hatte das Wort noch nie zuvor gehört. Es klang böse und schmerzhaft, wie Schuhe einkaufen mit seiner Mutter.
„Wie ist das passiert?“
„Ich habe dummerweise einem Hund vertraut, weil er so freundlich aussah und mit dem Schwanz gewedelt hat. Ich hätte einfach weitergehen sollen, aber nein, ich musste das dumme Ding ja streicheln, weil ich ihn so süß fand. Zwei Sekunden später hat er mir beinahe das Bein abgerissen.“
Aaron wusste nicht, was er sagen sollte. In seinem Kopf sah er das Bild eines süßen Hundes, der sich mit einem Mal knurrend auf Callie stürzte. „Das muss wehgetan haben.“
„So sehr wie nichts, was ich je erlebt habe. Ich musste mit hundert Stichen genäht und gegen einen toxischen Schock behandelt werden. Das ist also mein Grund“, schloss sie. „Immer, wenn ich einen Hund sehe, erinnere ich mich an den da.“
„Oh“, widersprach Aaron, „Bandit ist aber nicht irgendein Hund. Er ist wirklich vorsichtig. Er hat noch nie jemanden gebissen.“
„Ich sag dir was, Kleiner“, entgegnete sie. „Ich freunde mich mit Bandit an, wenn du mit mir im See schwimmst.“
Alleine bei dem Gedanken daran fingen seine Zähne an zu klappern. Wasser, das ihm über den Kopf stieg, über Mund und Nase und Augen. „Das kann ich nicht!“
„Okay. Dann kann ich mich nicht mit Bandit anfreunden.“
„Komm schon, Callie!“, fing Aaron nach einer Pause wieder an. „Bandit ist einfach toll! Er ist mein bester Freund. Er könnte keiner Fliege was zuleide tun.“
„Das Wasser im See tut auch nicht weh, solange man es respektiert und lernt, ein starker Schwimmer zu sein.“
„Ich kann es nicht“, wiederholte er.
„Zu schade!“, erwiderte sie mit leichter Stimme. „Es wäre so lustig gewesen, gemeinsam im See zu schwimmen.“
„Aber ...“
„Abgemacht ist abgemacht“, sagte sie.
Aaron biss die Zähne zusammen. Sie verstand das nicht. Niemand verstand ihn. Er wollte wirklich schwimmen und im Wasser spielen wie alle Kinder. Er hatte sich schon gezwungen, so weit hinauszugehen, dass ihm das Wasser bis über die Knie reichte. In manchen Nächten träumte er sogar davon, zu schwimmen, ins Wasser zu springen, wieder hochzukommen, um Luft zu holen, erneut einzutauchen. In seinen Träumen war er der beste Schwimmer der Welt. Und das hier war der beste Ort auf der Welt, um zu schwimmen.
„Es ist cool von deiner Mom, uns mit dem Kajak rausfahren zu lassen“, merkte Callie an.
Seine Mom und cool? Das Wort war Aaron im Zusammenhang mit ihr
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