Vertrau deinem Herzen
konnte: Sie besaß sie bereits. Sie musste nicht länger nach dem Wesen ihres Großvaters suchen. Es gab kein Geheimnis um ihn, zumindest nicht für Kate.
Rastlos stand sie auf und ging nach draußen. Irgendwas stimmte mit ihr nicht, wenn sie hier nicht schreiben konnte, an diesem ruhigen Ort, wo weder Telefon noch Fernsehen oder Internet sie stören konnten. Trotzdem war sie abgelenkt. Sie spielte das letzte Treffen mit JD Harris wieder und wieder in ihrem Kopf durch, wohl wissend, dass das nicht besonders gesund war. Aber sie war einfach nicht in der Lage, damit aufzuhören. Er war tatsächlich ein faszinierendes Rätsel. Er war zugänglich genug, um sie den Haken aus seinem Daumen entfernen zu lassen. Sie hatten sogar ein wenig Smalltalk gehalten und einige persönliche Informationen ausgetauscht. Aber als sie ihn nach seinem Interesse am Medizinstudium gefragt hatte, hatte er sie beinahe vor die Tür gesetzt. Warum? Schreckte er vor Verpflichtungen zurück? Oder versteckte er etwas, was ihr nicht gefallen würde?
Die verschiedenen Möglichkeiten überdenkend, fing sie an, die Wäsche von der Leine zu nehmen; Callie hatte sie am Morgen zum Trocknen in der Sonne aufgehängt. Das Mädchen war ein weiteres spannendes Rätsel. Sein Hintergrund war einfach unglaublich. Diesen Sommer, so schien es Kate, war sie nur von Leuten umgeben, die interessanter waren als sie selbst. Was für eine freie Journalistin aber vielleicht gar nicht schlecht war.
Sie ging an der Wäscheleine entlang, faltete ein Wäschestück nach dem anderen zusammen und legte es in den Korb. Je mehr Wäsche sie abgenommen hatte, desto breiter wurde der Blick auf den See und die umliegenden Berge. Der höchste Gipfel gehörte dem Mount Storm King, dem Sturmkönig – und diesen Namen trug er zu Recht: Im Winter tobten um seinen Gipfel so heftige Stürme, dass der Schnee sogar zum Teil noch bis in den Sommer liegen blieb.
Callie hat so wenig, dachte Kate, während sie ein extragroßes bedrucktes T-Shirt zusammenlegte. Ein paar Jeans und Jogginghosen, T-Shirts und Sweatshirts und zwei Nachthemden, alles in XL.
Kate war versucht, mehr zu tun, als sie bereits getan hatte. Ab und zu hatte Callie ihre Hilfe toleriert. Im Drugstore im Ort hatten sie Haarpflege- und Hautprodukte gekauft. Styling Gel und Anti-Pickel-Creme würden zwar nicht wiedergutmachen, was in Callies Kindheit kaputtgemacht worden war. Aber alles, was ihr Selbstbewusstsein anhob, und sei es nur ein winziges Stück, schien einen Versuch wert zu sein.
Ihr Bruder Phil hatte sie gewarnt, langsam vorzugehen. „Sie ist eine Ausreißerin, Kate“, hatte er in ihrem letzten Telefonat gesagt. Das war direkt nach ihrem Besuch in der Bücherei gewesen. „Und wenn du sie verschreckst, wird sie wieder abhauen.“
In der Bibliothek hatte Kate auch mit dem Gedanken gespielt, JD Harris zu googeln – genau wie Aaron es vorhergesagt hatte. Aber sie konnte es nicht. Es fühlte sich irgendwie unehrlich an. Außerdem war der Name so gewöhnlich, dass sie mit Tausenden von Treffern rechnen musste; die meisten davon wahrscheinlich Links zu Ahnenforschungsseiten.
Phil hatte auch da einen Rat für sie gehabt. „Hör auf, herumzuschnüffeln, und frag ihn einfach.“
„Und wenn ihn das verschreckt?“
„Wenn ein Mann sich dadurch verschrecken lässt, dass eine hübsche Frau ihm Fragen stellt, dann ist er es auch nicht wert.“
Sie dachte an seine Reaktion auf ihr Herumschnüffeln in seinem Haus. In naher Zukunft würde sie wohl nicht mehr dazu kommen, ihm neugierige Frage zu stellen.
Sie nahm das letzte Stück von der Leine, ein wie frisch gestärkt wirkendes weißes Bettlaken. Als sie es zusammenfaltete, hörte sie Bandit wieder bellen. Der Hund war zwar klein, hatte aber eine Stimme wie eine ganze Meute auf der Jagd. Dann hörte sie ein Platschen und ein weiteres Bellen und schaute in Richtung des Stegs.
Das frisch gewaschene Betttuch, halb zusammengefaltet, glitt ihr aus den Händen. Sie spürte es kaum unter ihren Füßen, als sie zum See hinunter und den Steg entlanglief.
Aaron war ins Wasser gefallen. Ihr Aaron, der Todesangst davor hatte, mit dem Kopf unter Wasser zu kommen, der nicht schwimmen konnte.
„Ich komme, Baby!“, rief sie und rannte in Riesenschritten über den Steg. Sie konnte ihn ein paar Meter entfernt im Wasser sehen. In voller Montur sprang sie in den See.
Das eiskalte Wasser raubte ihr die Luft, aber sie schwamm bereits in großen Zügen auf ihn zu, als ihr Kopf die
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