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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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mich? Wann würde ich den Mut haben, Sonja anzurufen und nach Vivian zu fragen? Oder Rainer? Was war aus ihnen geworden? Würde ich jemals wieder in meine Dreizimmerwohnung zurückkehren?
    Während ich mich noch etwas unbeholfen mit dem Kinderwagen auf die Rolltreppe wagte, überholte mich eine Männer gestalt, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Der Mann eilte nicht, er rannte! Mit hochgeschlagenem Kragen und eingezogenem Kopf sauste er in panischer Hast an mir vorbei. Unsanft stieß er mir den Ellenbogen in die Seite. Ich geriet aus dem Gleichgewicht und stolperte mit dem Kinderwagen zwei, drei Rolltreppenstufen hinunter. Hätte mich nicht jemand am Mantelzipfel festgehalten, wäre ich wahrscheinlich mitsamt Ben in die Tiefe gestürzt. Was für eine grauenvolle Vorstellung! Mir zitterten die Knie, und mir wurde übel. »Arschloch!«, brüllte ich hinter dem ungehobelten Kerl her. »Sind Sie bescheuert, Sie Idiot!« Was anderes fiel mir auf den Schrecken nicht ein. Nietete der einfach so unbescholtene Großmütter um! Der Mann murmelte irgendwas und hob nur den Mittelfinger. Da hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis. Dasselbe hatte Roman getan, als er durch die Drehtür am Flughafen verschwunden war. Es durchzuckte mich kalt. War das … Das war doch nicht … Es war Roman! Er sah mager aus, grau im Gesicht. In seinen Augen stand nackte Angst. Er sah aus wie ein gehetztes Tier. Ich strauchelte und klammerte mich am Rolltreppengeländer fest. Wir waren noch nicht ganz unten, als zwei stiernackige Gestalten an mir vorbeistürmten. Sie waren offensichtlich hinter Roman her! Wieder wurde ich so heftig gestreift, dass ich ins Straucheln geriet. Um Gottes willen! Sie verfolgten ihn! Ich presste mich ans Geländer und zog den Kopf ein, während meine Hände den Kinderwagengriff fest umklammerten.
    »Das schafft der nicht!«, rief der eine keuchend.
    »Diesmal schlagen wir ihn tot«, stieß der andere zwischen den Zähnen hervor.
    Das waren zwei Raubtiere, die ihre Beute zerfleischen wollten.
    Hilfe!, dachte ich. Hilfe.
    Wir kamen unten an, der Kinderwagen und ich. Eine Hand legte sich auf den Kinderwagengriff und half mir, das Gleichgewicht wiederzufinden.
    »Danke«, stammelte ich, »Danke.«
    »Geh mal nach Hause, Mutti«, sagte mein Retter. »Das ist eine gefährliche Gegend!«
    Romans Verfolger drängten inzwischen die Leute in der Unterführung zur Seite. Die schrien verärgert auf.
    »He, was soll das!«
    »Rüpel!«
    »Arschlöcher!«
    »Ich ruf die Polizei!«
    Und plötzlich wurde mir klar, dass Roman meine Hilfe brauchte. Instinktiv setzte ich mich in Bewegung. Es war schwer zu erklären, was mir die entscheidende Prise Löwenmuttermut eingab. Fakt war, dass ich mitsamt dem Kinderwagen durch die Gasse rannte, die sich gerade in der Unterführung gebildet hatte.
    »Weg da!«, schrie ich und galoppierte in wilder Hast hinter den beiden brutalen Kerlen her. Silke hatte eine Fahrradklingel am Kinderwagengriff angebracht, und die betätigte ich jetzt, dass es nur so schrillte.
    »Die ist verrückt, eh!«
    »Die spinnt, die Alte!«
    »Voll behindert, eh!«
    Obwohl es vernünftiger gewesen wäre, Ben in Sicherheit zu bringen, raste ich mit Tunnelblick durch den Tunnel. Durch die Ansammlung von Billigläden, Kneipen, Pennern, Pendlern, Jugendlichen, verschleierten Frauen mit Einkaufstüten, Reisenden mit Rollköfferchen und Geschäftsmännern mit Aktentaschen. Ich sah, wie sie wie in Zeitlupe vor mir zurückwichen, gleichzeitig nahm ich kaum etwas anderes wahr als Roman. Roman war in Gefahr.
    Auf der anderen Seite ging es die Rolltreppe wieder hoch, und nun verlor ich mit dem Kinderwagen wertvolle Zeit. Ich konnte ja nicht rennen, nur stehen. Roman verschwand draußen im Schneeregen, während seine Verfolger dermaßen aggressiv die Rolltreppe hochpolterten, dass die Passanten Schutz suchend die Köpfe einzogen.
    »Polizei!«, schrie ich. »Hilfe, Polizei! Die haben meinen Sohn!«
    Einige Passanten starrten mich an, als wäre ich eine arme Irre.
    »Die wollen meinen Sohn umbringen!«, schrie ich. »Mein KIND! «
    Und plötzlich kam Leben in die Umherstehenden. Eine Frau mit Kinderwagen, die schreit: »Sie haben meinen Sohn«, lässt jeden noch so abgebrühten Gaffer reagieren. Dutzende Handys wurden gezückt, ich hörte »Eh, Kind entführt!« und »Voll krasses Kidnapping!«
    Auf einmal ging alles ganz schnell: Getrappel von schweren Stiefeln, uniformierte Sicherheitsmänner. Eine Alarmsirene schrillte. Ich war noch

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