Verwechseljahre: Roman (German Edition)
aufgeregte Carin mit geröteten Wangen.
Auf einmal schossen mir Viktors Worte wieder durch den Kopf, die Roman mir damals geschrieben hatte: »Als allein lebende ältere Frau wird sie jetzt jedes Weihnachten bei uns unterm Baum sitzen wollen.« Oh. Oje. Hoffentlich machte das jetzt nicht genau den Eindruck!
Ich klingelte. Ein melodiöses Glockenspiel ertönte. Ben quietschte überwältigt. Der Türsummer ging, und das Tor öffnete sich automatisch. Andächtig betrat ich das tolle Grundstück. Über den freigeschaufelten Gartenweg stiefelte ich mit Ben zur Villa. Sein liebes kleines Gesicht leuchtete im Widerschein der Lichterpracht. Hie und da rieselte etwas Schnee von einer Fichte. Die Haustür öffnete sich, und warmes Licht aus dem Flur fiel auf die dunklen Sträucher und Bäume. Mein Herz begann zu rasen. Und das nicht nur von der Anstrengung, den Kinderwagen zu schieben! Wie oft hatte ich mir ausgemalt, Viktor wiederzubegegnen! Vielleicht hatte er eine weiche, warme Strickjacke an, und ein erfreutes Lächeln würde seine Lippen umspielen? »Carin, welch Überraschung! Ich habe mir gerade Tee gekocht …« Später würde er dann eine Flasche Wein aufmachen, den Kamin anzünden, eine weiche Decke für Ben ausbreiten, während wir uns entspannt dazusetzten und plauderten. Dort weitermachten, wo wir am Todestag meiner Mutter aufhören mussten. Ich spürte schon seine warme, weiche Hand in meiner. Und roch seinen Vanilletabak. Gänsehaut überzog mich. Ich konnte nicht verhindern, dass ich fast schon verklärt lächelte. In seliger Vorfreude blickte ich auf.
Oh.
Aber in der Haustür stand nicht Viktor. In der Haustür stand eine Frau. Mit blonder Föhnwelle. Ganz schön unflott. Frau Möller hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
»Sie wünschen?«, fragte die Frau mit einem unterkühlten norddeutschen Akzent. Sie trug ein fliederfarbenes Strick-Twin set und hatte eine Perlenkette um den Hals. In der Hand hielt sie mit spitzen Fingern eine Tasse Tee.
»Äh, ist Herr Stiller da?«, keuchte ich. Mir brach der Schweiß aus. Was machte die denn hier? Trank SIE etwa Tee mit Viktor? Hatte er etwa – eine Frau kennengelernt? Und dann noch so eine uncoole? Ohne mir Bescheid zu sagen?
Die Frau warf einen abschätzigen Blick auf meine Wenigkeit. Ben fing an zu quengeln. Er hatte Hunger.
»Ich weiß nicht, ob er zu sprechen ist.« Die Frau tat so, als wäre sie die Dame des Hauses und ich eine unwillkommene Zeugin Jehovas. Siedend heiß fiel mir ein, dass Zeugen Jehovas gern Kleinkinder mitschleppen, um die Menschen milder zu stimmen. Genau das war es wohl, was die Frau dazu brachte, die Tür schon wieder zu schließen.
»Dann seien Sie doch so liebenswürdig und fragen Sie ihn«, sagte ich etwas zu honigsüß.
»Haben Sie einen Termin?« Ihr Blick huschte von meiner Frisur zu meinen Stiefeln.
»Nein. Ich wollte ihn überraschen. Ich habe …« Aufmunternd klapperte ich mit der Keksdose.
»Er hat zu tun!«, bürstete mich die Frau ab und wollte die Tür endgültig zumachen.
»Ich würde ihn aber gern sprechen!« Sollte ich den Fuß dazwischenschieben? Aber ich konnte ja schlecht den Kinderwagen loslassen. Er wäre rückwärts den Weg hinuntergerollt.
»Ich schaue, was ich tun kann«, sagte die Perlenkette gnädig. »Wen darf ich melden?«
»Carin Bergmann«, sagte ich so würdevoll wie möglich.
Die Frau schob die Tür zu und ließ mich draußen in der Kälte warten. Wahrscheinlich hatte sie Angst, ich könnte das Tafelsilber stehlen.
»Blöde Kuh«, murmelte ich verdrossen und schaukelte Ben beruhigend, der jetzt auf der Stelle aus seinem Wagen genommen zu werden wünschte und schrie wie am Spieß.
Durch die in die Tür eingelassene Glasscheibe sah ich, wie die Unsympathin die Treppe hinaufging und an eine Tür klopfte. Sie wohnte doch nicht schon hier? Ich hörte sie förmlich sagen: »Liebster, da ist eine Zeugin Jehovas mit Kinderwagen. Wollen wir sie reinlassen?«
O Gott! Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich hätte mich schon viel eher bei Viktor melden sollen! Warum hatte ich nur vorher nicht den Mut gehabt?
Weil ich mich erst noch sammeln, wieder zu mir finden, mein Selbstbewusstsein aufpolieren wollte. Außerdem war ich bei Silke wirklich unabkömmlich gewesen. Das war der Grund, und genauso würde ich es ihm auch erklären. Außerdem pflegte ich Männern nicht nachzulaufen. Erst recht nicht jenen, bei denen ich Schmetterlinge im Bauch bekam, wenn ich nur an sie dachte. Aber das
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