Verwechseljahre: Roman (German Edition)
pausenlos meine Hand. Inzwischen hatte er eine solche Fahne, dass der Taxifahrer demonstrativ die Scheibe herunterließ.
»Zu mir oder zu dir?«, lallte Rainer.
»Ich zu mir, und du zu dir«, stellte ich klar. Der Taxifahrer warf mir über den Rückspiegel einen verständnisvollen Blick zu.
6
W ährend wir nach Hause gondelten, geriet ich immer mehr ins Grübeln. Vielleicht hätte ich Billi oder Sonja längst alles erzählen sollen? Sie wären bessere Adressaten gewesen. Ich liebte meine Mädels vom Fitnesscenter. Wir waren die Sex-and-the-City -Freundinnen für Arme. Sonjas erwachsene Tochter Vivian gehörte auch mit dazu. Wenn wir zu viert Arm in Arm durch Butterblum zogen, fühlten wir uns wie in Manhattan. (Na ja, fast.)
Aber als ich vor achtzehn Jahren mit meiner Mutter in diesen kleinen Ort zog, um Leiterin der Bibliothek zu werden, war ich nicht in der Stimmung, meinen neuen Freundinnen von mei nen Altlasten zu erzählen. Wozu alte Wunden wieder aufreißen? Stattdessen stürzte ich mich in die Arbeit und nach Feierabend in Sonjas Fitnesscenter, wo ich mich bis zur Erschöpfung ab reagierte. (Mein Lieblingssportgerät war der Boxsack.) Tagsüber organisierte ich Lesungen, und es gelang mir immer wieder, namhafte Autoren und Schauspieler für einen viel beachteten Abend zu gewinnen. Die Butterblumer Seeabende waren gesellschaftliche Highlights bei uns, für die Billi, Sonja, Vivian und ich uns ladylike ausstaffierten und auf denen wir viel Prosecco tranken.
Für meine drei Freundinnen war ich die selbstständige, be rufstätige Frau, die ihr Leben blendend meisterte und außer ih rer alten Mutter niemanden zu versorgen hatte. Rainer Frohwein, meinen Nachbarn, hatte ich nie erwähnt (man hat ja auch seinen Stolz). Ich war also ein unbeschriebenes Blatt.
Billi und Sonja betrachteten meine vermeintliche Unabhängigkeit sogar manchmal mit einem gewissen Neid.
»Du hast es gut! Als Einzige keine Kinder an der Backe!«, sagte Sonja gern. »Keine Schwangerschaftsstreifen, keinen Hängebusen, keine Orangenhaut!«
Wie gesagt: Sonja gehörte das Fitnesscenter Nord am Kreisverkehr. Sie betrieb es mit ihrer fünfundzwanzigjährigen Tochter Vivian, die unverschämterweise genauso aussah wie Sonja in jung. So eine perfekte Schönheit gab es sonst nur im Märchen. Da war Göttin wirklich gemein gewesen, Sonja eine soooo schöne Tochter vor die Nase zu setzen. Ausgerechnet Sonja, die selbst die Schönste im ganzen Land sein wollte! Von wegen, Königin – Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen im Fitnessraum nebenan ist tausendmal schöner als Ihr! Schneewittchen hatte immer die knappsten pinken Fitnessoutfits an, solche, die bei den Gebrüdern Grimm nicht vorkommen. Klar, dass die Königin Brechreiz bekam.
Vivian ließ ihre blonden Zöpfe und ihre kessen Brüste wippen, wenn sie Kurse wie »Zumba« oder »Hot Iron« abhielt. Ihre blendend weißen Zähne strahlten, während sie die Kursteilnehmer anfeuerte: »Noch zehn, neun, acht …«, und dabei gegen die ohrenbetäubenden Rhythmen aus der Anlage anschrie. »Es muss brennen, Mädels! Erst wenn ihr anfangt zu zittern, habt ihr genug!«
Sonja dagegen sah aus wie eine gealterte, verknitterte Ausgabe ihrer Tochter. Auch sie kleidete sich in knappe pinke Outfits, war immer eine Spur zu olivfarben und zwang ihre schon dünnere Haarpracht ebenfalls in blonde Zöpfchen, die eher wie Rattenschwänze aussahen. (Rainer hätte gesagt: »Rattenscharfe Superschwänze.« Aber erst nach ein paar Bier.)
Wenn man sie von hinten sah, konnte man sie fast für Vivian halten. »Aber der Zahn der Zeit beißt die Frauen«, wie Mutter zu diesem Thema gerne anmerkte. Von vorne sah Sonja eben doch aus wie eine Frau, die auf die fünfzig zugeht: Krähenfüße um die Augen, viele Lachfalten um die Mundwinkel, überkronte Zähne, Hautunebenheiten, größere Äderchen an den Händen und Falten an Kinn und Hals. Sonja war keck und witzig, oft auch laut und übermütig – doch manchmal wirkte ihr Jugendwahn etwas albern. Warum musste sie Klamotten der Marke »Forever 18« tragen und darunter einen Stringtanga, den Mut ter wahrscheinlich für ein Haarband gehalten hätte? Sie trug BH s, die das Wesentliche unbedeckt ließen, und ich fragte mich oft besorgt, ob sie auf diese Weise die Trennung von ihrem Mann Holger verarbeitete. Der hatte sie vor einem halben Jahr Knall auf Fall verlassen und war mit einer Jüngeren durchgebrannt. Obwohl wir alle drei fanden, dass diese Jüngere mit
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