Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Daraufhin erfuhr ich, dass man dabei auf einem Schlitten sitzt und sich von einer Art Fallschirm übers Eis ziehen lässt. Ein ZDF -Moderator und ein ehemaliger Schlagersänger waren auch mit von der Partie. Sie übernachteten in winzigen Zelten und waren beim besten Willen nicht über Handy zu erreichen. (Klar. Das war natürlich auch eingefroren.) Das alles offenbarte sie mir allerdings nur, weil ich ihr so penetrant an der Backe blieb. Doch was Rainer konnte, konnte ich schon längst! Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Ausgerechnet jetzt war Oliver quasi vom Erdboden verschluckt. Hoffentlich würde meinem Sohn nichts passieren! Jetzt war mir auch klar, warum er mich vor Beginn dieses Abenteuers noch angerufen hatte. Er wollte für den Fall der Fälle sein Leben ordnen.
Wie gesagt: Er hätte mir das bestimmt alles selbst erklärt, aber ich hatte ja unbedingt auflegen müssen. Ich raufte mir die Haare. Konnte er denn nach dreißig Jahren nicht zu einem günstigeren Zeitpunkt anrufen? Das Leben war wirklich ungerecht!
Und seine arme Familie? Diese schwangere Silke mit den kleinen Kindern Laura und Max? Die mussten doch vor Angst vergehen!
Ich hatte der kühlen Sekretärin alle meine Kontaktdaten aufgedrängt. Selbst die von Rainer. So weit war es mit mir schon gekommen. Sie notierte sie gnädig, und ich glaubte zu hören, dass sie kein bisschen lächelte.
8
A m Mittwoch nach Bibliotheksschluss hatte ich erstmals wie der Zeit, ins Fitnesscenter Nord zu gehen. Die täglichen Krankenhausbesuche hatten mich davon abgehalten. Endlich, endlich wollte ich meinen besten Freundinnen alles erzählen. Ich platzte vor Rededrang! Ich würde gar nicht trainieren, sondern die Mädels gleich auf einen Prosecco einladen. Außerdem war vielleicht Billis Enkelkind schon da? O Gott, nicht nur sie wurde in diesen Tagen Großmutter, sondern auch ich! Bereits dreifache Großmutter wurde ich! Auf einmal hatte ich sie alle überflügelt! Wie würden sie diese sensationelle Nachricht aufnehmen? Würden sie mir überhaupt glauben? Ich zitterte vor Aufregung, als ich über den Parkplatz zum Fitnessstudio eilte.
Doch kaum war ich über die Schwelle getreten, stürzte sich Vivian auf mich: »Carin, gut, dass du da bist. Mama hat einen Heulkrampf!«
»Aber warum denn?«
»Sie hat sich Extensions machen lassen, und es …« Sie zog mich diskret in eine Ecke. »Es sieht einfach scheiße aus!«
Was man von Vivian nicht behaupten konnte. Dieses hinreißend schöne Kind ließ ausgerechnet heute, am Haartrauertag seiner Mutter, seine dicke semmelblonde Löwenmähne offen bis zu den grazilen Hüften hängen.
»Sag mal, sind alle Kinder so grausam zu ihren Müttern? Steck dir sofort die Wolle hoch!«
Mitleidig betrat ich den Umkleideraum, in der ein gerupftes Huhn im Fitnessdress mit verquollenen Augen und schwarz verschmierter Wimperntusche vor der grausamen, alles hundert fach wiedergebenden grell beleuchteten Spiegelwand hockte und bitterlich schluchzte. Von Weitem sah Sonja aus wie ein verunglücktes Double von Vivian. Wie eine Vivian, die vom Blitz getroffen wurde, einen Stromschlag bekommen hat oder mit ihren Haaren unter ein Bügeleisen gekommen ist. Ihre mühsam angeschweißten, gebleichten Inderinnensträhnen hingen ihr wie dünne Drähte vom Kopf. Eigentlich war es zum Totlachen. Dass sie heulte, machte den Anblick nicht schöner.
»Erst sah es hammermäßig geil aus«, weinte Sonja, nachdem sie mich durch ihre Spülbürstenfrisur erkannt hatte. »Superschön geföhnt, total füllig, glatt und seidig. Ich stöckel hier rein, und die Leute sagen, dass ich jetzt echt aussehe wie Vivian! Und dann mach ich drei Stunden Zumba, Hot Iron und Power Pilates, schüttle zum Abschluss noch eine Stunde den Flexibar, stelle mich unter die Dusche, und dann …«
Der Rest ging in hemmungslosem Schluchzen unter.
»Ja, aber Liebes!«, sagte ich aufmunternd und hielt ein paar dünne Borsten hoch, um ihr Gesicht überhaupt erkennen zu können. »Dann föhnst du es halt wieder!«
»Dann krisselt es sich!« Verzweifelt brach sie auf der Umkleidebank zusammen.
»Na und?«, stellte ich mich dumm. »Dann krisselt es sich eben! Mein Gott, davon geht doch die Welt nicht unter! Ich wünschte, ich hätte endlich mal Locken!«
»Es sind keine normalen Locken. Das sind Afrolocken«, heulte Sonja und drosch mit der Faust auf die Bank ein. »Die Schweine haben mir Negerhaare untergejubelt! Und richtig blond sind sie auch nicht mehr. Die sind metallfarben!
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