Verwechseljahre: Roman (German Edition)
noch mit der Hand schreiben kann!«, wunderte sich Billi laut. »Also meine Kinder können nur noch in ihre Handys und Computer hacken.«
»Er kommt aus einem sehr guten Elternhaus«, verriet Sonja mit gewichtiger Miene. »Da wurde noch Wert auf Etikette gelegt.«
»Aber seine Wortwahl ist doch etwas eigenwillig«, meinte Billi.
Ich unterdrückte ein Frösteln.
»Es geht ja noch weiter!« Sonja hielt erneut den Zettel hoch. Rainers Buchstaben purzelten mir förmlich entgegen.
Ich
möchte mich
über dich stülpen,
damit du auch
von innen siehst,
dass nichts in mir ist,
das nicht dir gehört.
»Ach du Scheiße!«, entfuhr es mir.
»Er will sich über dich stülpen?«, fragte Billi perplex. »Ist das eine eurer Übungen?«
Zu meinem Entsetzen brach Sonja in hysterisches Gelächter aus.
»So geschwitzt habe ich noch nie im Leben!«
Ich auch nicht. Mir brach der Schweiß aus.
»Kinder, das Leben ist geil!«, rief Sonja.
Billi hüstelte. »Der Adler hat ja ne ungeahnt poetische Ader!« Sie warf mir einen besorgten Blick zu. »Sieht man ihm irgendwie gar nicht an! Carin, alles in Ordnung? Du siehst so blass aus!«
»Äh, ich bin einfach nur total überrascht! Ich glaube, mir ist schwindlig …«
»Das sind die Wechseljahre«, sagte Billi verständnisvoll. »Trink noch einen Schluck Prosecco, dann kommt der Kreislauf wieder in Schwung!«
» MEIN Kreislauf kommt von ganz anderen Sachen in Schwung! Er ist was ganz Besonderes, das habe ich von Anfang an gespürt.«
Sie beugte sich verschwörerisch vor: »Ich bin so wahnsinnig glücklich und fühle mich mindestens zwanzig Jahre jünger! Ich könnte fliegen! Ach, Kinder, ich hatte schon ganz vergessen, wie schön es ist, verliebt zu sein.« Sie küsste den Zettel, sodass die grüne Tinte verschwamm. »Von wegen vertrocknet! Ich bin unheimlich fit im Schritt!«
Billi und ich starrten sie an.
»Wisst ihr, er tut immer so sachlich, aber ich habe ihm in die Augen geschaut, in diese meerblauen Augen …«
»Das könnten Kontaktlinsen sein«, meinte Billi trocken.
»Jedenfalls hat es zwischen uns …« Sonja verstummte, weil die Türglocke ging.
»Kundschaft«, sagte Billi fast schon erleichtert.
»Ah, Mist, ich hab Personal Training!« Sonja eilte zur Tür. Nicht, ohne den Zettel vorher in ihrem Ausschnitt zu verstauen. »Mädels, kein Wort davon zu Vivian! Ich bin einfach nur glücklich!« Strahlend huschte sie davon.
»Sind diese unsäglichen Reime wirklich von UNSEREM Manni?«, sagte Billi entgeistert. »Der Junge sieht gar nicht so bescheuert aus!«
»Nein! Verdammt! Sie sind von Rainer!«
»Von deinem Nachbarn?« Billi fiel die Kinnlade runter.
Ich nickte verstört. Und musste zugeben, dass dieses Geschreibsel mir galt. Draußen hörten wir, wie Sonja mit glockenheller Stimme ihren Klienten begrüßte und sie mit ihren Übungen begannen.
»Sonnengruß!«, gurrte sie aufgedreht. »Heraufschauender Hund, herabschauender Hund!« Irgendein armer Hund war jetzt ihren Hormonwallungen ausgeliefert.
Im anderen Nebenraum hörte man, wie Vivian ihre Kursteilnehmer zu ohrenbetäubender Musik anfeuerte. » UUUUND das Ganze noch MAAAAL! Höher! Noch höher! Noch vier, drei, zwei, eins …«
Im dritten Übungsraum drosch Manni mit jemandem auf den Boxsack ein.
Nur wir saßen sozusagen zwischen den Fronten in der Umkleidekabine. Die Tür flog auf, und Vivian kam herein. Ich sah, wie ihre schweißüberströmten Kursteilnehmer mit letzter Kraft auf ihren Podesten herumstampften. Sah ich das richtig? War das Rainer, der da mit einem Totenkopf-Schweißband auf der Stelle trat? Der Schwitzfleck auf seinem Hemd hatte die Größe des Atlantischen Ozeans!
Vivian rief über die Schulter: » UND noch zehn! Neun! Acht … Los, ihr Säcke! Gebt alles! Quält euch! Zeigt es euren inneren Schweinehunden!«, bevor sie die Tür mit der Schulter zudrückte. »Mensch, Billi und Carin, ihr müsst mir helfen!«
Das Baby war aufgewacht und quäkte. Billi wiegte es beruhigend.
»Mama bildet sich allen Ernstes ein, dass Manni die Fitness- DVD mit IHR machen will!«
Ich packte Vivians Arm.
»Vivian, wir sollten sie vorerst in dem Glauben lassen …«
»WAS? Seid ihr noch ganz dicht?« Aufgebracht riss Vivian sich los, griff nach der Prosecco-Flasche und trank sie gierig aus.
»Ein typischer Fall von SEIS «, murmelte ich.
»Häh?«
»Sie hat das Selbsteinschätzungsirrtumsyndrom. SEIS .«
»Gott SEIS geklagt«, kalauerte Billi und verdrehte die Augen.
»Sie hat im Moment
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