Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Anwälte hatte der Reeder engagiert, um seinen Sohn immer wieder »rauszupauken«. Das waren Viktor Stillers Worte gewesen. War mein Roman – kriminell?
Was hatte ihn nur in so eine Situation gebracht? Der Schock über den Tod der Mutter und über die Adoption konnte es allein nicht gewesen sein. Wie hatte der Reeder gesagt? Er hatte seinen Job verloren! Einen Traumjob, der viel Geld eingebracht hatte! Er hatte auch seine Frau verloren! Eine Traumfrau, die ihm drei Kinder geschenkt hatte! So was wirft man doch nicht einfach weg? Vor so etwas läuft man doch nicht einfach davon!
Vivian? Ja, bestimmt war er bis über beide Ohren in sie verknallt, und sie in ihn. Sie hatten Pläne mit der DVD und dem Fitnessstudio, aber das waren doch nur Flausen. Er war doch erwachsen, ein kluger Kopf, der sich doch der Konsequenzen bewusst sein musste!
Sonja war hin- und hergerissen. Einerseits hatte sie bis vor Kurzem noch selbst wie ein Backfisch für Roman geschwärmt, andererseits war sie Vivians Mutter. Einerseits wollte sie Vivians Glück nicht im Wege stehen, andererseits hatte sie nun gesehen, welche Scherben Roman hinterlassen hatte.
Wobei … Scherben waren das eigentlich nicht. Eine stabile Mutter und drei gesunde, stabile Kinder. Sie hatten sich von Roman nicht kaputt machen lassen.
Nur der Vater hatte sichtlich Schaden genommen. Viktor Stiller.
»Ich werde Vivian vor ihm warnen«, sagte Sonja, während sie in ihrer Handtasche wühlte und nach ihrem Handy suchte. »Sei mir nicht böse, liebe Carin, aber er ist ein Blender.«
»Das sagt meine Mutter, und das sagt auch Rainer«, antwortete ich traurig. »Bitte keine Sippenhaft.«
Sonja fand zwar nicht das Handy, aber dafür einen grün beschrifteten Zettel.
»Wo du gerade Rainer erwähnst …« Sie strahlte über das ganze Gesicht und zog das Opus hervor. »Rainer Maria Rilke hat mir wieder was gedichtet.«
Billi, die nachdenklich aus dem Fenster geschaut hatte, sah mich überrascht an.
Mit einem heimlichen Nicken musste ich zugeben, dass ich Rainers Zettel immer noch in Sonjas Spind stopfte.
»Lies vor!«
Das mussten wir ihr nicht zweimal sagen. Sie schloss die Augen und zitierte auswendig:
»Wie kann ich schlafen
mit deiner Stimme in meinem Kopf.«
Na klar. Sie machte ja auch seit Wochen mit ihm Pilates. So was prägt.
Sonja lächelte versonnen: »Ich glaube, ich mag den. Der hat so was Besonderes.«
Billi und ich wechselten einen vielsagenden Blick. Billi senkte langsam die Lider.
Ich wurde rot und schaute auf den Fußboden. Die feine Art war das nicht. Aber ich hatte im Moment wirklich andere Sorgen.
19
Z u Hause erwartete mich eine böse Überraschung. Mein kleiner gelber Wagen, der in der Einfahrt stand, war völlig demoliert! Nicht nur die Scheiben waren eingeschlagen worden. Auch der Rückspiegel war abgebrochen, und alle vier Reifen waren platt. Hinzu kam, dass jemand die Sträucher und Blumen in unserem Vorgarten mit roher Gewalt herausgerissen und auf dem ganzen Bürgersteig verteilt hatte.
Mein Herz raste. Schockiert schloss ich die Haustür auf. Vor der Wohnung lag die umgekippte Mülltonne, die normalerweise unten im Hof stand, und der ganze stinkende Abfall hatte sich auf unsere Etage ergossen.
»Mutter?«
Mit zitternden Händen tastete ich nach dem Lichtschalter, aus Angst, die Wohnung könnte auch demoliert sein. Ich sah Mutter schon tot auf dem Boden liegen!
Aber die Wohnung war unversehrt. Mutter lag friedlich in ihrem Bett und schlief.
Es war halb sieben Uhr abends und gerade noch hell, und ich griff als Erstes zum Handy, das Rainer meiner Mutter auf den Nachttisch gelegt hatte, und wählte seine Nummer.
»Rainer?«
»Hallo, meine Schnuckelmaus! Bist du schon zurück?«
Normalerweise hätte ich ihn angeherrscht: »Ich bin nicht deine Schnuckelmaus!« Aber jetzt war ich viel zu sehr in Panik.
»Wo bist du denn?« Meine Stimme war nur noch ein schrilles Quieken.
»Ich war noch schnell im Supermarkt, bin aber schon auf dem Heimweg!«
»Rainer, komm schnell, es ist was passiert!«
Ich zitterte so heftig, dass ich anfing zu weinen. Mutter erwachte, nahm schlaftrunken meine Hand, und ich saß auf ihrer Bettkannte und heulte wie ein kleines Mädchen.
Rainer versprach, in fünf Minuten da zu sein. »Dass du solche Sehnsucht nach mir hast!« Er klang richtig begeistert.
»Was ist denn passiert, mein Kind?«, fragte Mutter mit brüchiger Stimme.
»Ach nichts, Mutter!« Hastig wischte ich mir über die Augen. »Ich bin nur
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