Verwechseljahre: Roman (German Edition)
mitzumachen, was mir aus unerklärlichen Gründen nicht reizvoll erschien, stach mir Folgendes ins Auge:
»Rennradfahren mit Werner durch die wilde Landschaft der Algarve!«
Na, wenn das kein verlockendes Angebot war!
Zögernd näherte ich mich der Fahrradbude, die außerhalb des Club-Geländes lag. Allzu viele Urlauber schienen nicht Rennrad fahren zu wollen. Ehrlich gesagt war ich die Einzige, die sich um vierzehn Uhr zum Rennradfahren einfand. Vor der Bude hockte ein rastabezopfter Mensch im Clubdress vor einem kopf stehenden Fahrrad und reparierte es. Ich stand unschlüssig hinter ihm und überlegte, ob es sich lohnte, ihn anzusprechen. Er war kraft seines Amtes dafür zuständig, mit mir durch die wilde Landschaft der Algarve zu fahren, ob er nun wollte oder nicht. Ich musste ihn nur auf seine Pflichten hinweisen. Aber wollte ICH das? Ich wollte mit meinem Sohn zusammen sein, nicht mit irgendwelchen Gregors oder Werners, die mich nicht für fünf Pfennige interessierten. Und dafür hatte ich so viel Geld gezahlt, meine Bibliothek im Stich gelassen – und Mutters Grab! Heute war Allerseelen. Bestimmt kniete Rainer jetzt davor und stellte duftende Reseden darauf.
Bei der Erinnerung an Mutters Lieblingsgedicht schossen mir die Tränen in die Augen:
Allerseelen
Stell auf den Tisch die duftenden Reseden,
die letzten roten Astern trag herbei,
und lass uns wieder von der Liebe reden
wie einst im Mai.
Gib mir die Hand,
dass ich sie heimlich drücke,
und wenn man’s sieht, mir ist es einerlei.
Gib mir noch einen deiner süßen Blicke
wie einst im Mai.
Es blüht und duftet hier auf jedem Grabe,
ein Tag im Jahre ist den Toten frei.
Komm an mein Herz, dass ich dich wiederhabe,
wie einst im Mai
wie einst im Mai.
Doch statt an Mutters Grab zu stehen, trieb ich mich auf der Suche nach Zerstreuung in der Algarve herum! Ich schluckte trocken. Nicht hängen lassen! Bloß nicht losheulen! Kein Selbstmitleid!
Noch sah ich Werner nicht von vorne, aber seine Frisur ließ auf einen Freak schließen. Sollte ich Zeit mit ihm verbringen? Und mit einem Rennrad? Auf den staubigen Landstraßen Portugals? Mir war so gar nicht danach. Aber noch weniger war mir danach, allein auf meinen Sohn zu warten und trübsinnig zu werden. Ich vermisste Rainer, und das war besorgniserregend. Ich hustete verlegen.
»Ähm … Werner?«
Der Freak drehte sich um. Ich starrte ihn überrascht an. Er war jung. Höchstens Ende zwanzig. Braun gebrannt, sportlich, und die Rastalocken passten zu ihm. Wie hatten seine Eltern diesen hübschen Knaben nur Werner nennen können?
Ein eigenartiger Ausdruck huschte über sein jungenhaftes Gesicht. »Nee, ich bin Markus.«
»Und wo ist Werner?«
»Ich glaube in Spanien oder so.«
Seine Mundwinkel zuckten ein bisschen. Er musste sich ein Lachen verkneifen. Hm. Irgendwie hatte ich gehofft, Werner wäre in meinem Alter. Nun musste ich schon wieder einen jungen Burschen mit meiner Anwesenheit belästigen. In Markus’ Beuteschema passte ich gleich dreimal nicht! Der hustete verlegen und verfiel dann in erwartungsvolles Schweigen. Unschlüssig trat ich von einem Bein aufs andere. »Und, würdest du vielleicht mit mir – ähm – Rennrad fahren?«
Markus musterte mich. Vielleicht war ich nicht so passend gekleidet mit Jeans, geblümter Sommerbluse, Sneakers und Handtasche. Aber irgendwohin muss man doch als Frau mit sei nen Siebensachen! Wo tun Rennradfahrer denn ihr Portemonnaie, ihren Schlüssel, Lippenstift, Sonnenbrille, Jacke, Handy, Fotoapparat, Lutschpastillen und Taschentücher hin? Da ist ja nun wirklich nur eine bescheidene Grundausstattung! Auf Luxus wie Roman, Sitzkissen, Sonnenmilch, Hut und Knabberriegel hatte ich ja schon verzichtet!
Markus schaute unschlüssig auf die Uhr.
»Zehn nach zwei«, sagte ich. »Zeit zum Rennradfahren.«
»Ja, kannst du das denn?«, fragte Markus, sprang auf und wischte sich die Hände an seinem Club-T-Shirt ab.
»Nein, aber ich dachte, du bringst es mir bei!«
»Na ja, wenn du noch nie Rennrad gefahren bist …«
Bei einem Blick auf sein bleistiftdünnes Rad mit dem küchenmesserschmalen Sattel konnte ich seine Zweifel nachempfinden. Die Griffe waren dermaßen grausam gebogen, dass man nur liegend und auf den Boden starrend vorwärtskam. Und das ver mutlich in affenartiger Geschwindigkeit im Windschatten eines Lasters. Von wegen, die schöne wilde Landschaft der Algarve genießen! Was gab es bloß alles für bescheuerte Sportarten! Andererseits …
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