Verwesung
verschwommene hellrote Flecken. Als ich die Außenbezirke Londons erreichte, ließ der Regen nach, aber da hatte ich durch die Anspannung schon heftige Nacken- und Kopfschmerzen. Die Straßenlaternen und hellerleuchteten Geschäfte, die sich zudem noch auf dem nassen Asphalt spiegelten, blendeten mich so sehr, dass ich die ganze Zeit die Augen zusammenkneifen musste.
Als ich endlich in meine Straße einbog und vor meiner Wohnung hielt, war ich erleichtert. Es war nach Mitternacht. In keinem der Häuser ringsum brannte Licht, die Nachbarn waren also entweder aus oder schliefen bereits. Ich schloss die Tür auf und bückte mich, um die Post aufzuheben, und als ich mich wieder aufrichtete, hatte ich plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich drehte mich schnell um, doch die Straße war leer. Ich merkte, wie ich die Luft anhielt und darauf wartete, dass irgendetwas die Stille erschütterte.
Du bist müde und bildest dir etwas ein. Da ist nichts, entspann dich.
Ich ärgerte mich über mich selbst, als ich die Tür hinter mir schloss. Es war jetzt über ein Jahr her, dass ich vor meiner Wohnung beinahe getötet worden wäre, und ich hatte eigentlich gedacht, dass ich darüber hinweg sei.
Offensichtlich hatte ich mich getäuscht.
Ich ging in die Wohnung und schaltete das Licht an. Wie immer kam es mir zu still vor. Ich machte den Fernseher an und suchte automatisch einen Nachrichtensender. Dann stellte ich den Ton leise, bis die flackernden Bilder nur noch ein Hintergrundrauschen waren.
Ich war nicht mehr müde. Das Adrenalin hatte die Erschöpfung weggespült, und ich wusste, wenn ich jetzt ins Bett ginge, würde ich nicht schlafen können. Also holte ich aus dem Wohnzimmerschrank die seltsam geformte Flasche Bourbon mit dem kleinen Pferd samt Jockey auf dem Deckel. Sie war fast leer. Anfang des Jahres hatte ich sie aus Tennessee mitgebracht, aber nur sehr selten etwas getrunken, damit sie so lange wie möglich reichte. Doch jetzt hatte ich das Gefühl, mir einen Drink verdient zu haben. Außerdem musste ich mich für das stärken, was ich vorhatte.
Ich schenkte mir das Glas ordentlich voll und trank einen großen Schluck. Der Bourbon war stark und gleichzeitig weich, und während er mir noch in der Kehle brannte, ging ich in den kleinen Raum am Ende des Flurs. Eigentlich war es ein drittes Schlafzimmer, obwohl ein Bett kaum hineingepasst hätte. Die meisten Leute haben eine Abstellkammer, in der sie alte Möbel und Habseligkeiten verstauen und vergessen, anstatt sie wegzuwerfen. Doch was in diesem Raum war, wollte ich nicht vergessen.
Ich schaltete das Licht an. In den Regalen vom Boden bis unter die Decke waren einfache Pappkartons und Dokumentenkästen gestapelt. Jeder hat eine Vergangenheit. Ob gut oder schlecht – sie ist das, was uns ausmacht. In diesem Raum steckte meine Vergangenheit.
Nachdem Kara und Alice tot waren, hatte ich versucht, vor meinem alten Leben davonzulaufen. Ich hatte nichts mehr mit Freunden und Kollegen zu tun haben wollen und die Verbindung zu allen und jedem abgebrochen, damit mich nichts an das erinnerte, was ich verloren hatte. Fast alles, was ich besaß, hatte ich verkauft oder verschenkt, doch bei ein paar Sachen hatte ich es nicht übers Herz gebracht. Ich hatte sie eingelagert und versucht, sie so gut wie möglich zu vergessen, bis ich mich dazu in der Lage fühlen würde, zurückzukehren und die Fäden meines alten Lebens wieder aufzunehmen. Alles, was davon übrig geblieben war, steckte nun in diesen Kartons und Kisten. Fotografien, Tagebücher, Erinnerungen.
Arbeit.
Ich trank noch einen Schluck und stellte das Glas ab. Die Kisten waren nicht geordnet, doch alle persönlichen Sachen befanden sich in den einfachen Pappkartons, in die ichsie in einer Art Betäubung gestopft hatte. Ich war noch immer nicht bereit, mir diese Dinge anzuschauen. Meine Forschungsunterlagen und Ermittlungsakten dagegen steckten in den Dokumentenkästen, die immerhin beschriftet waren.
Als ich den richtigen Kasten gefunden hatte, war ich verschwitzt und in Staub gehüllt. Ich trug ihn ins Wohnzimmer, stellte ihn auf den niedrigen Couchtisch und öffnete ihn. Ein muffiger Geruch nach altem Papier entströmte ihm. Da die Akten alphabetisch sortiert waren, war es nicht schwer, meine Aufzeichnungen über den Monk-Fall zu finden. Es waren mehrere, sich wölbende Papphefter, die mit einem dicken Gummiband zusammengehalten wurden. Das Band war im Laufe der Zeit porös geworden und zerriss, als ich
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