Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verwesung

Verwesung

Titel: Verwesung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
Vom Netzwerk:
geblieben, rang mir nun aber ein Lächeln ab und trat einen Schritt vor.
    «Hallo, Leonard.» Es war das erste Mal, dass ich ihn mit seinem Vornamen ansprach, aber alles andere wäre mir unpassend vorgekommen. Meine Hand streckte ich erst gar nicht aus, denn ich wusste, dass es zwecklos wäre.
    «Dr.   Hunter ist zum Essen gekommen, Liebling», sagte seine Frau. «Ist das nicht nett? Ihr beide könnt über alte Zeiten sprechen.»
    Als hätte er mich schließlich bemerkt, drehte sich der große Kopf schwerfällig in meine Richtung. Die vernebelten Augen schauten mich an. Wainwrights Mund zuckte, und für einen Augenblick dachte ich, er würde vielleicht sprechen. Doch dann wandte er seinen Blick wieder hinaus aufs Meer.
    «Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Dr.   Hunter?», fragte seine Frau. «Das Essen ist in zwanzig Minuten fertig.»
    Mein Lächeln kam mir wie festgefroren vor. «Ja, gerne. Kann ich Ihnen helfen?»
    «Das ist sehr nett, vielen Dank. Wir sind gleich wieder da, Leonard», sagte sie und tätschelte die Hand ihres Mannes.
    Er reagierte nicht. Mit einem letzten Blick auf die Gestalt im Sessel folgte ich ihr zurück in die Diele.
    «Entschuldigen Sie, ich hätte Sie warnen sollen», sagte sie, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. «Aber als Sie anriefen, hatte ich angenommen, dass Sie über Leonards Zustand Bescheid wüssten.»
    «Ich hatte keine Ahnung», sagte ich. «Was hat er? Alzheimer?»
    «Die Ärzte scheinen sich nicht ganz sicher zu sein. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es so viele verschiedene Arten von Demenzerkrankungen gibt. Bei Leonard ist sie schnell vorangeschritten – wie das so ist. Die letzten beiden Jahre sind   … ziemlich schwer gewesen.»
    Das konnte ich mir vorstellen. «Tut mir leid.»
    «Ach, solche Dinge passieren eben.» Sie klang unbeschwert und sachlich. «Ich dachte, es könnte helfen, wenn er ein bekanntes Gesicht sieht. Unsere Töchter leben nicht in der Nähe, und wir bekommen nicht oft Besuch. Normalerweise geht es ihm zu Beginn des Tages besser. Deswegen habe ich Sie zum Mittagessen eingeladen. Danach fällt Leonard meistens in einen Dämmerzustand. Sundowning nennt man das. Kennen Sie den Begriff?»
    Ich bejahte. Als Arzt hatte ich erlebt, wie manche Demenzpatienten zum Ende des Tages verwirrter oder aufgeregter wurden. Niemand wusste genau, weshalb.
    «Wie Sonnenuntergang. Welch ein schöner Begriff für eine so furchtbare Sache, denke ich immer», fuhr seine Frau fort.
    Plötzlich fühlte ich mich wie ein Betrüger. «Hören Sie, Mrs.   Wainwright   …»
    «Sagen Sie doch Jean, bitte.»
    «Jean.» Ich holte tief Luft. «Ihr Mann und ich   … also, um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob er sich wirklich freut, mich zu sehen.»
    Sie lächelte. «Ja, Leonard konnte ziemlich cholerisch sein. Aber über die Gesellschaft wird er sich bestimmt freuen. Erst recht, weil Sie extra den ganzen Weg hergekommen sind.»
    «Na ja, das ist eigentlich kein reiner Höflichkeitsbesuch. Ich hatte gehofft, mit ihm über die Ermittlung sprechen zu können, an der wir zusammengearbeitet haben.»
    «Dann tun Sie das bitte. Manchmal hat er recht lichte Momente, besonders wenn es um Vergangenes geht.» Ehe ich protestieren konnte, machte sie die Tür zum Arbeitszimmer auf. «Dann können Sie beide jetzt reden, und ich kümmere mich ums Essen.»
    Mit einem matten Lächeln ging ich wieder hinein. Die Tür schloss sich hinter mir, und ich war allein mit Wainwright.
Mein Gott.
Seine Veränderung war erschreckend. Ich musste daran denken, wie er meine ersten Erkenntnisse am Grab von Tina Williams als seine eigenen ausgegeben hatte. In dem Moment hatte ich es für schamlose Rivalität gehalten, doch jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht hatte er schon damals unter Geistesschwäche gelitten und versucht, sie zu verbergen.
    Er zeigte keine Anzeichen, mich wahrgenommen zu haben. Er saß im Sessel und starrte aus dem Fenster aufs Meer. Ich fragte mich, ob er überhaupt wusste, was er sah.
    Jetzt bist du hier. Mach das Beste draus.
Ich nahm den Schreibtischstuhl, stellte ihn so hin, dass ich ihn anschauen konnte, und setzte mich. Ich überlegte, was ich sagen sollte. Der Grund für meinen Besuch schien sich genauso aufgelöst zu haben wie Wainwrights Gedächtnis, doch ich konnte nicht einfach dasitzen. Auch wenn wir uns nicht gemocht hatten, wünschte ich keinem Menschen dieses Schicksal.
    «Hallo, Leonard. Ich bin’s wieder, David Hunter. Wir haben einmal

Weitere Kostenlose Bücher