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Verwesung

Verwesung

Titel: Verwesung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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Landzunge am südlichen Rand Torbays. Es war eine Fahrt von weniger als einer Stunde, deshalb nahm ich eine längere Route, auf der ich mehr von der Küste sah. Jenseits der hohen Klippen schimmerte die Sonne auf dem unruhigen Meer. Trotz der Kälte fuhr ich mit offenem Fenster und genoss die frische Brise. Diesen Teil des Landes kannte ich kaum, aber er gefiel mir. Obwohl nur dreißig Kilometer von Dartmoor entfernt, schien es eine völlig andere Welt zu sein, eine schönere und weniger bedrückende. Ich konnte verstehen, dass Wainwright hier lebte.
    Sein Haus war leicht zu finden, denn es gab dort nicht viele andere. Die Villa aus den 1920er Jahren mit verputzten Mauern und schwarzen Stützbalken lag etwas abseits der Straße hinter einer Reihe hoher, kahler Linden. Die lange Kiesauffahrt war auf der einen Seite mit weiteren Linden gesäumt, während auf der anderen ein weitflächiger Rasen angrenzte.
    Vor der Doppelgarage stand ein hellblauer Toyota. Ich parkte daneben und ging dann die Stufen zur Haustür hinauf. Ich drückte auf die alte Messingklingel und lauschte dem Schellen, das irgendwo aus der Tiefe des Hauses kam.
Da wären wir also
, dachte ich und straffte die Schultern, als drinnen forsche Schritte ertönten.
    Die Frau, die mir die Tür öffnete, passte so gut zu der Stimme am Telefon, dass sie nur Wainwrights Frau sein konnte. Sie war vielleicht weniger matronenhaft und trug statt eines Kostüms mit Perlen, wie ich angenommen hatte, über einem Wollrock einen grauen Pullover mit Polokragen. Aber das perfekt frisierte graue Haar und das auffällige Make-up entsprachen genau meiner Vorstellung, ebenso der stählerne Blick ihrer Augen, die jetzt überraschend freundlich lächelten. «Sie müssen David Hunter sein, richtig?»
    «Richtig.»
    «Ich bin Jean Wainwright. Ich freue mich ja so, dass Sie uns gefunden haben. Wir wohnen hier ein bisschen ab vom Schuss, aber genau das gefällt uns.» Noch immer lächelnd, trat sie zur Seite. «Aber kommen Sie doch herein.»
    Ich betrat das Haus. Die Diele hatte einen schönen Parkettboden und holzvertäfelte Wände. Auf einem antiken Mahagonisekretär stand eine große Vase mit Chrysanthemen, deren schwerer Duft gegen das Parfüm und den Gesichtspuder der Frau ankämpfte. Ihre hohen Absätze klapperten im Stakkato über das Parkett, als sie mich durch die Diele führte.
    «Leonard ist im Arbeitszimmer. Er freut sich, Sie zu sehen.»
    Das war so unwahrscheinlich, dass ich mir plötzlich sicher war, einen Fehler gemacht zu haben. Handelte es sich hier vielleicht um einen anderen Leonard Wainwright?
Zu spät.
Seine Frau öffnete eine Tür am Ende der Diele und winkte mich hinein.
    Nach der dunklen Holzvertäfelung war es in dem Zimmerblendend hell. Durch ein riesiges Erkerfenster, das beinahe die gesamte Länge des Raumes einnahm, strahlte das Sonnenlicht. Bücherregale säumten die Wände, und an einer Seite stand ein eleganter Schreibtisch mit Lederauflage, der, abgesehen von einer weiteren Vase mit Chrysanthemen, vollständig leer war.
    Der Geruch der Blumen erfüllte das Zimmer, doch es war der Ausblick, der alle Aufmerksamkeit in Beschlag nahm. Man schaute über den Rasen, der zum Klippenrand hinabführte, dahinter nichts als das Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Fast hatte ich das Gefühl, am Bug eines Schiffes zu stehen. Der Blick war so atemberaubend, dass ich im ersten Moment kaum etwas anderes wahrnahm. Dann hörte ich Wainwrights Frau.
    «Leonard, David Hunter ist hier, ein ehemaliger Kollege von dir. Du erinnerst dich doch an ihn, nicht wahr?»
    Sie stand neben einem Ledersessel. Ich hatte nicht bemerkt, dass dort jemand saß. Der Sessel stand so vor dem Erkerfenster, dass man die Aussicht genießen konnte, und ich wartete, dass sich Wainwright erhob. Als er es nicht tat, ging ich weiter ins Zimmer hinein, bis ich an den breiten Kopflehnen vorbeischauen konnte.
    Ich hätte ihn nicht wiedererkannt.
    Den Riesen meiner Erinnerung gab es nicht mehr. Wainwright saß zusammengekrümmt im Sessel und starrte mit leerem Blick hinaus aufs Meer. Er schien geschrumpft zu sein, so als hätten sich Fleisch und Muskeln aufgelöst. Die aristokratischen Züge waren ausgelöscht, die Wangen eingefallen, die Augen lagen in tiefen Höhlen, und die einst dichte Haarmähne war dünn und grau.
    Wainwrights Frau hatte sich erwartungsvoll zu mir umgedreht.Ihr heiteres Lächeln wirkte jetzt so zerbrechlich und durchsichtig wie das Fenster. Ich war geschockt stehen

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