Verwesung
Blick aus, als wir hineingingen, aber sie war rot geworden, offenbar wusste sie, wie wütend ich war. Ich konnte nicht glauben, dass sie mich ohne Vorwarnung hierhergeführt hatte.
Man lernt die Familien der Opfer nicht kennen. Niemals.
Es war sowieso schon schwer genug, objektiv zu bleiben, auch ohne diese zusätzliche emotionale Last. Sophie wusste das genau.
Ich fragte mich, welche Überraschung sie noch für mich bereithielt.
Nur mit Mühe konnte ich meine Gefühle kontrollieren, als wir den Flur entlanggingen. Das Haus war beinahe zwanghaft sauber, es roch penetrant nach Scheuermittel und Luftauffrischer. Wie die Bahnen eines Mähdreschers in ein Weizenfeld hatten sich in den dicken Teppich die Wirbelmuster des Staubsaugers eingefräst.
Die Tür ratschte darüber, als Cath Bennett uns in ein aufgeräumtes Wohnzimmer führte. Eine Sitzgarnitur aus Sofa und Sesseln war in klinischer Präzision angeordnet, die Glasplatte des Couchtisches spiegelte frisch poliert. Auf dem Kaminsims funkelten Nippesfiguren und Keramiktiere, auf denen garantiert kein Staubkorn lag.
Und überall waren gerahmte Fotos der toten Mädchen, deren Mutter jetzt mit steifer Höflichkeit sagte: «Bitte, nehmen Sie Platz. Mein Mann ist bei der Arbeit, aber er wäre unssowieso keine große Hilfe. Er kann immer noch nicht darüber sprechen. Möchten Sie Tee oder Kaffee?»
Sophie vermied weiterhin, mich anzuschauen. «Tee wäre nett.»
«Und Sie, Dr. Hunter?»
Ich rang mir ein Lächeln ab. «Für mich auch, bitte.»
Sie eilte hinaus und ließ uns allein mit den Fotos ihrer ermordeten Töchter. Sie lächelten uns von überall im Zimmer an, zwei unterschiedslos schöne, dunkelhaarige Mädchen. Ich riss meinen Blick von ihnen los und sah Sophie wütend an.
«Bitte sei nicht böse», sagte sie sofort. «Es tut mir leid, dass ich dich überrumpelt habe, aber ich wusste, dass du sonst nicht mitgekommen wärst.»
«Allerdings. Was hast du dir nur dabei gedacht?»
«Ich wollte dich erinnern, was auf dem Spiel steht! Worum es wirklich geht!»
«Glaubst du, das weiß ich nicht längst?» Ich versuchte mich zu beruhigen. «Sophie, das ist ein Fehler. Wir sollten nicht hier sein.»
«Jetzt können wir nicht einfach wieder gehen. Nur eine halbe Stunde, ja?»
Ich sagte lieber nichts mehr. Schweigend warteten wir, bis Cath Bennett zurückkehrte. Sie trug ein Tablett mit einem Teeservice herein. Die besten Tassen und Untertassen, ein Teller mit ordentlich arrangierten Keksen.
«Bedienen Sie sich mit Milch oder Zucker, wenn Sie wollen», sagte sie und nahm auf dem Sofa Platz. «Sophie hat gesagt, dass Sie forensischer Anthropologe sind, Dr. Hunter. Ich weiß zwar nicht genau, was das ist, aber ich bin Ihnen dankbar für das, was Sie tun.»
Was ich tue?
Sophie warf mir einen flehenden Blick zu. «David hat vor acht Jahren an der Suche im Moor teilgenommen», sagte sie schnell.
Cath Bennett stand auf und holte ein gerahmtes Foto vom Kaminsims. «Ich kann immer noch nicht glauben, wie lange es schon her ist. Dieses Jahr wären sie sechsundzwanzig geworden. Im Mai.»
Sie reichte mir das Foto. Als ich es widerwillig nahm, hatte ich das Gefühl, einen Pakt einzugehen. Es war nicht das gleiche Foto, das die Zeitungen verwendet hatten und das ich erst vor wenigen Tagen im Internet wiedergesehen hatte, aber es musste ungefähr zur selben Zeit aufgenommen worden sein. Kurz bevor die beiden siebzehnjährigen Mädchen im Abstand von weniger als drei Tagen von Jerome Monk entführt und ermordet worden waren. Beide Schwestern waren auf dem Bild zu sehen, Seite an Seite, jede das perfekte Spiegelbild der anderen. Dennoch gab es leichte Unterschiede zwischen ihnen. Beide lachten zwar, aber die eine grinste frech und herausfordernd in die Kamera, während ihre Zwillingsschwester den Kopf etwas gesenkt hielt und eher gedämpft und verlegen wirkte.
«Sie hatten den Hautton und die Haarfarbe ihres Vaters», fuhr ihre Mutter fort. «Zoe kam fast in jeder Hinsicht nach Alan. Sie war immer extrovertiert, schon als kleines Mädchen. Sie hat uns ziemlich auf Trab gehalten, das kann ich Ihnen sagen. Lindsey war die Ruhige. Sie sahen zwar gleich aus, aber ansonsten waren sie grundverschieden. Wenn sie …»
Sie unterbrach sich. Ihr Lächeln bebte. «Man sollte sich nicht mit ‹Was wäre, wenn› aufhalten. Sie haben ihn kennengelernt, nicht wahr? Jerome Monk.»
Die Frage war an mich gerichtet. «Ja.»
«Ich wünschte, die Gelegenheit hätte ich auch gehabt.
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