Verwesung
eigentlich wussten wir kaum etwas voneinander. Mit ihr im schummrigen Licht des Feuers zu sitzen, kam mir dennoch seltsam vertraut vor.
«Wollen wir uns nicht duzen?», fragte sie.
«Ja, gerne.»
«Willst du einen Brandy oder so?»
«Nein danke.»
Sie räusperte sich. «Was ich schon die ganze Zeit sagen wollte … Ich habe das mit deiner Familie gehört. Es tut mir so leid.»
Ich nickte nur. Im Ofen knisterte das Holz. Sophie lächelte nervös und zupfte an ihren Fingern.
«Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.»
«Erzähl mir doch, wie du hier gelandet bist. Wie kommt eine psychologische Beraterin zum Töpfern?»
Sie lächelte verlegen. «Ja, das ist nicht gerade das Naheliegendste, oder? Ich hatte wohl einfach genug. Ständig hatte ich nur mit der dunklen Seite des Lebens zu tun, mit Schmerz und Elend. Und dann die Misserfolge. Nach dem Fiasko mit Monk war mein Selbstvertrauen ziemlich angeknackst, und ich habe alles in Zweifel gezogen, was ich tat. Irgendwann wollte ich morgens nicht einmal mehr aufstehen. Also bin ich ausgestiegen, bevor es ganz schlimm wurde.»
Sophie schaute sich im Zimmer um, als würde sie es zum ersten Mal wahrnehmen.
«Ich bin jetzt seit vier … nein, seit fünf Jahren hier. Mein Gott! Töpfern war schon lange ein Hobby von mir, und als ich hörte, dass dieses Haus zum Verkauf steht, dachte ich mir, warum nicht? Dartmoor hat mir immer gefallen, und ich wollte einen Neuanfang, etwas völlig anderes. Kannst du das verstehen?»
Das konnte ich. Vielleicht besser, als sie dachte.
«Als Erstes verbrannte ich meine gesamten Aufzeichnungen», fuhr sie fort. «Wirklich alles, über jeden Fall, an dem ich gearbeitet habe. Alles ging in Flammen auf. Außer den Notizen über einen Fall.»
«Jerome Monk», sagte ich.
Sie nickte. «Keine Ahnung, warum ich die nicht auch vernichtet habe. Vielleicht lag es daran, dass ich hierhergezogen bin. Hier in der Nähe ist schließlich alles passiert damals …» Sie faltete ihre Hände auf dem Schoß, so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Für eine Weile war das gedämpfte Knistern des Feuers das einzige Geräusch im Zimmer. «Hast du manchmal daran gedacht?»
«Erst als Monk geflohen ist.»
«Ich denke viel darüber nach.» Sophie starrte hinab auf ihre verschränkten Hände. «Wir hatten die einmalige Gelegenheit, die Gräber von Lindsey und Zoe Bennett zu finden, und wir haben es vermasselt.»
Ich seufzte. «Ich kann nicht behaupten, dass wir uns mit Ruhm bekleckert haben, aber manchmal ist das eben der Lauf der Dinge. Wir haben unser Bestes getan. Niemand hat Schuld an dem, was damals passiert ist.»
Sie schüttelte heftig den Kopf, ihr Gesicht hatte sich verfinstert. «Wir hätten mehr tun müssen.
Ich
hätte mehr tun müssen.»
«Monk hat von Anfang an nicht vorgehabt, uns zu den Gräbern zu führen, er hatte andere Absichten. Er hat nur eine Möglichkeit gesucht, zu fliehen.»
Und fast wäre es ihm gelungen
.
«Aber genau das glaube ich eben nicht.» Sie kam mir zuvor, ehe ich etwas entgegnen konnte. «Okay, meinetwegen, wahrscheinlich hat er an Flucht gedacht. Aber ich glaube nicht, dass es nur das war. Seine Reaktion, als er Tina Williams’ Grab gesehen hat, war meiner Meinung nach nicht vorgetäuscht. Ich bin mir sicher, dass er tatsächlich versucht hat, sich zu erinnern.»
Sie schaute mich ernst an, offensichtlich war ihr wichtig, dass ich ihr glaubte. Deshalb wählte ich meine Worte vorsichtig. «Jerome Monk kannte das Moor besser als jeder andere. Er hätte sich dort monatelang verstecken können, ohne gefasst zu werden. Wenn er gewollt hätte, hätte er uns direkt zu den anderen Gräbern führen können.»
«Nicht unbedingt! Ich habe damals schon gesagt, dass er Probleme haben wird, sich nach einem Jahr sofort an die Stellen zu erinnern, besonders wenn er die Leichen nachts vergraben hat. Und die Menschen blenden manche Dinge einfach aus, ohne es zu wollen. Schmerzhafte Erinnerungen zum Beispiel, oder wenn ihr Gehirn zu viel verarbeiten muss und sozusagen einfach überläuft.»
«Das trifft vielleicht auf einen normalen Menschen zu, der durchdreht und die Beherrschung verliert, aber wir sprechen über Jerome Monk. Er ist ein soziopathischer Serienmörder, ein Raubtier. Er hat kein Gewissen.»
«Vielleicht doch», entgegnete sie. «Nicht, dass ich ihn oder seine Taten verteidigen will, er ist gewalttätig und unberechenbar, aber das heißt nicht, dass man ihn nicht erreichen kann. Deswegen habe ich
Weitere Kostenlose Bücher