verwundet (German Edition)
Warum waren die Beziehungen zwischen Menschen so kompliziert? Als sie Lydias Blick auf sich spürte, öffnete sie die Augen.
„Warum sagst du mir nicht, was dich bedrückt?“
„Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“
„Was darf nicht sein?“
„Ach nichts. Ist das Wasser angenehm?“
„Ja, sehr.“
„Du bist schön. Du siehst viel jünger aus, als Mama ausgesehen hat.“
„Was darf nicht sein, Lisa?“
„Soll ich dir den Rücken schrubben?“
Als Lydia sie so grüblerisch ansah, wuchs ihre Furcht. „Dann geh ich mal schlafen.“ Sie war es jedoch nicht gewöhnt, so früh schlafen zu gehen. Nach einer ganzen Weile horchte sie auf. Lydia hatte das Bad verlassen und war in ihr Schlafzimmer gegangen. Lisa sprang auf. Sie klopfte leise an Lydias Tür und betrat dann das Zimmer.
Lydia wunderte sich: „Nanu, du schläfst ja noch gar nicht.“
„Ich kann nicht schlafen. Darf ich zu dir kommen?“ Lydia rückte beiseite. Lisa legte sich zu ihr, und Lydia löschte das Licht. Krampfhaft suchte Lisa nach einem Gesprächsthema. „War Stephan eigentlich immer schon so eifersüchtig auf dich?“ Als Lydia schwieg, fügte sie schnell hinzu: „Falls du davon sprechen möchtest.“
„Es wurde im Laufe der Jahre immer schlimmer. Ganz besonders arg war es, seit er seine Stelle verloren hatte und anfing, mir im Laden zu helfen. Ich hatte einen sehr zuverlässigen Angestellten. Er war ein paar Jahre jünger als ich, und wir haben uns gut verstanden. Das war Stephan immer schon ein Dorn im Auge gewesen. Als sie dann zusammen arbeiten sollten, war es eine Katastrophe. Je mehr ich zu vermitteln versuchte, desto mehr musste Georg unter ihm leiden. Er hat ihn vor Kunden bloßgestellt und seine Arbeit sabotiert. Schließlich hat Georg gekündigt. Das fand ich sehr bedauerlich, denn ich mochte ihn nicht nur persönlich, sondern er war auch ein sehr guter Buchhändler. Er war sehr belesen und wusste in so ziemlich allen Bereichen Bescheid. Dann fing Stephan an, die Kunden zu vergraulen. Zu Frauen war er sehr charmant, aber wehe, wenn ich zu einem männlichen Kunden nett war. Schon bloße Freundlichkeit begann er negativ auszulegen. Ich habe gehofft, dass er mir mit der Zeit vertrauen und mir glauben würde, dass ich ihn liebe. Aber er vertrieb nach und nach auch Freunde, weil er ihnen ständig unterstellte, mit mir zu flirten. Auf Dauer hält das keine Partnerschaft aus.“
„Wenn man jemanden liebt, ist man doch immer eifersüchtig.“
„Wenn ich jemanden liebe, sollte ich auch Vertrauen zu ihm haben.“
„Mich hat noch nie jemand geliebt!“
„Das ist doch Unsinn!“ Lydia legte den Arm um Lisa „Warum, meinst du wohl, habe ich dich bei mir aufgenommen? Und dann denk doch mal an deine Mutter.“ „Warum hat sie mich dann verlassen und sich umgebracht?“
„Bestimmt nicht, weil sie dich nicht geliebt hat. Sie war ein zutiefst verzweifelter Mensch und hatte einfach nicht mehr die Kraft, zu kämpfen.“
„Warum war sie bloß so verzweifelt? Sie war Papa doch los.“
„Ich weiß es nicht, Lisa. Irgendwie wusste sie wohl nicht, wo sie hingehörte. Sie hatte ihren Platz im Leben nicht gefunden. Man kann in Menschen nicht hineinschauen, wenn diese es nicht zulassen.“
„Ich will auch nicht, dass man in mich hinein schaut.“ Lydia seufzte: „Ich weiß. Damit machst du es mir manchmal sehr schwer, weil ich dann nicht weiß, was in dir vorgeht. Wenn du plötzlich zu weinen anfängst und ich nicht weiß, warum, dann stehe ich völlig ratlos vor dir und kann dir nicht helfen.“
„Mir kann man sowieso nicht helfen!“
Lydia bewegte sich, und plötzlich ging das Licht an. „Was hast du da bloß für eine Einstellung, Lisa? Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. So viele Möglichkeiten stehen dir offen. Du kannst Fähigkeiten entwickeln, wachsen, lernst Dinge und Menschen kennen und lieben. Wer weiß, was du noch alles Schönes vor dir hast.“
„Ach, ich kann nichts, ich bin nichts und schön bin ich auch nicht!“
„Zuerst einmal entspricht das nicht der Wahrheit. Du kannst eine ganze Menge, du nutzt es nur nicht, weil deine Fertigkeiten für dich selbstverständlich sind. Sie sind aber nicht selbstverständlich. Du kannst doch wunderbar zeichnen. Die Portraits, die du von Mara und Frau Kraus gemalt hast, finde ich wirklich sehr gut gelungen. Und was die Schönheit angeht, die ist natürlich relativ, das ist richtig. Aber ich finde dich schön.“ „Du bist schön, ich nicht!“
Lydia
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