Verzauberte Herzen
wie früher.
Wenn sie
frei sein wollte, musste sie zu ihm gehen.
Dampfende
Nebelzungen krochen aus den Hügeln und Höhlen und wirbelten wie Drachenatem um
die Brüstungen von Weyrcraig. Das Meer schlug in besinnungsloser Wut auf die
Klippen ein. Der Vollmond warf einen eisigen Schein über die märchenhaft
scheinende Burg. Alles, was er berührte, schien zeitlos zu erstarren.
Gwendolyn
bewegte sich durch die dunklen Gänge. Keine Minute länger wollte sie in der
Vergangenheit leben. Sie war nicht mehr das Mädchen, das einen Jungen suchte.
Sie war eine Frau, die einen Mann suchte. Einen Mann aus Fleisch und Blut,
nicht aus Mythen und Mondlicht.
Sie
schirmte die Kerze vor den Windstößen ab, die durch das Loch in der steil
abfallenden Nordmauer hereinjagten, und warf keinen Blick nach unten in die
tobende See. Die herumliegenden Steinblöcke umschiffte sie, als wären sie bloß
eine Hand voll Kieselsteine.
Das
Mondlicht, das durch die Überbleibsel der Eingangstür strömte, bot Gwendolyn
keinen Anreiz mehr. Sie kehrte der Tür den Rücken und suchte den Schatten
danach ab, wo sich ein Drache, der nicht gefunden werden will, verborgen halten
könnte.
Der große
Saal schien bis auf seine Gespenster verlassen zu sein. Die Kristallkaraffe
stand nach wie vor auf dem Tisch, ein Schlückchen schlummerte noch auf ihrem
Boden.
Gwendolyn
durchsuchte mit wachsender Ungeduld Zimmer für Zimmer, bis sie eine staubige
Kapelle fand. Außer einem kleinen, runden, farbigen Fenster hoch über dem
Altar, hatte wenig den unheiligen Zorn der Kanonen überlebt.
Gwendolyn
kämpfte gegen die Verzweiflung an, als sie sich einen Weg an den zerstörten
Kirchenbänken vorbei-suchte. Wenn der Drache nicht mehr da wäre? Wenn er mit
dem Schiff, das sie wenige Nächte zuvor ankern sehen hatte, entkommen wäre?
»Bitte«,
flüsterte sie, den Blick auf das farbige, runde Licht gerichtet.
Ihre Augen
schlossen sich, und eine tiefe Gewissheit ergriff von ihr Besitz. Wenn er
nicht mehr da war, würde sie es fühlen. Er war irgendwo innerhalb dieser
Mauern. Irgendwo.
Sie öffnete
die Augen und hastete aus der Kapelle. Ihre Schritte trugen sie zu einem
baufälligen Gemäuer, das einmal als Waffenkammer gedient hatte. Ein dünner
rötlicher Schein drang aus dem Abstieg in der Ecke herauf. Er bestätigte ihre
Vorahnung.
Der Drache
war unter die Erde gegangen.
Sie
schwenkte die Kerze vor sich, ließ die Schatten tanzen, sah aber das Ende der
Treppe nicht. Sie sah aus, als führte sie geradewegs in den Schlund der Hölle.
Gwendolyn
senkte die Kerze mit einem furchtsamen Atemzug. Es war gefährlich, sich in die
Höhle des Drachen zu begeben, aber was blieb ihr übrig? Wie würde er
reagieren, wenn sie
ihn in die Enge trieb? Sie hoffte, ihr Herz würde es überstehen, wenn er um
sich schlug.
Vorsichtig
machte sie sich auf den Weg. Sie raffte ihr plissiertes, himmelblaues
Taftkleid, damit es nicht die flechten-bewachsenen, vor Feuchtigkeit
glitzernden Mauern streifte. Möglich, dass die enge Stiege in eine hoch
aufragende Höhle führte, dass sie den Drachen auf einem funkelnden Nest aus
Gold, Diamanten, Smaragden und Rubinen fand. Dass er seinen mächtigen Kopf hob,
seine Schuppen im Dunst schillerten und dass ein Feuerstoß sie bis auf die
Knochen verzehren würde.
Gwendolyn blieb
kurz stehen, um diese Fantasie abzuschütteln. Wenn der Drache in der letzten
Nacht etwas bewiesen hatte, dann das, dass er keine Bestie war.
Als sie den
Treppenabsatz erreichte, vertiefte sich der rötliche Schein. Er lockte sie
durch einen Bogengang, der in ein Vorzimmer führte. Hier fand sie den Drachen
endlich. Er döste nicht auf einem versteckten Schatz, sondern auf einem
zerfledderten Haufen Polstern und Decken.
Ein Ansturm
der Zärtlichkeit überfiel Gwendolyn. Der Drache lag auf dem Rücken, einen Arm
ausgestreckt, seine Finger lose zur Faust gekrümmt. Sein Gesicht war vom erlöschenden
Kaminfeuer abgewandt. Obwohl das Feuer die klamme Kälte nur wenig gemildert
hatte, hatte er die schützende Decke weggestoßen. Ein langer, schlanker
Schenkel in Doeskin-Kniehosen und ein bestrumpfter Fuß lagen frei. Sein Hemd
war bis zur Taille geöffnet. Es enthüllte seine ebene, goldene Brust, die mit
einem zarten, dunklen Pelz besetzt war.
Heißes
Wachs tropfte auf Gwendolyns Finger. Ihr Mund wurde trocken, als sie bemerkte,
dass sie seine wahre Natur mit ihren zitternden Händen jetzt enthüllen konnte.
Sie
zögerte. Es kam ihr falsch vor, ihn im Schlaf
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