Verzehrende Leidenschaft
leise, und sein rascher Gang verlangsamte sich, während seine Wut unter der bedrückenden Last der schmerzlichen Erinnerung verrauchte.
»Ihr wart also in ihrer Nähe, als sie ermordet wurden?«
»Nay. Ich hörte ihre Schreie in meinem Kopf. Diese gequälten, schrecklichen Schreie – da sah ich den Tod meiner Freunde voraus. Ich war etwa einen Tagesritt entfernt, vielleicht auch noch ein bisschen mehr, jedenfalls viel zu weit, um ihre Ermordung verhindern zu können. Sie wurden mit den Handgelenken an Äste gebunden und aufgeschlitzt wie frisch erlegtes Wild. Gott allein weiß, wie lange sie leiden mussten, bis sie ihr Leben aushauchten.«
Moira erzitterte bei dem Gedanken an einen solch grausamen, furchtbaren Tod. Tavigs Gabe war ja noch viel schlimmer als ihre eigene. Immerhin konnte sie sich mit dem Wissen trösten, dass sie schon einigen Menschen geholfen und ihre Schmerzen gelindert hatte.
»Und so habt Ihr sie dann gefunden?«, fragte sie.
»Nein. Ich wurde unweit von ihnen von einem Freund aufgehalten. Er warnte mich, dass mir eine Falle gestellt worden sei. Mein Cousin Iver versuchte, meine Gabe gegen mich zu verwenden, und zwar, um mich zu fangen. Er ging davon aus, dass ich den Tod meiner guten Freunde vorhersehen und zu ihnen reiten würde. Also wartete er dort mit ein paar Bewaffneten auf mich.«
»Aha. Und dann hätte er behauptet, Euch mit einem blutigen Dolch in der Hand gefasst zu haben.«
»Richtig. Doch es hat mich nicht gerettet, dass ich ihm nicht in die Falle ging. Es hat mich weder davor gerettet, meine Freunde wie faulendes Wildbret an einem Baum hängen zu sehen, noch davor, als gemeiner Mörder angeklagt zu werden.« Er nahm sie um die Taille und hob sie mühelos über einen Felsbrocken, dann sprang er ihr nach. »Sie haben mich erwischt und vor die Leichen meiner Freunde gezerrt, damit ich sehen konnte, was man mir vorwerfen würde. Dann wurde ich in das Verlies von Drumdearg gestoßen.« Er nahm sie wieder an der Hand und führte sie zu einem langsam ansteigenden Schafpfad.
»Drumdearg?«
»So heißt meine Burg.«
»Die Burg, auf die inzwischen Euer Cousin Iver Anspruch erhebt.«
»Aye. Wenn ich mich nicht irre, liegt Drumdearg etwa einen Wochenritt nordwestlich von hier.«
»Etwas näher, als Euch lieb ist, vermute ich.«
»Aye, zumindest im Moment. Doch bald werde ich wieder in der Großen Halle sitzen, und zwar als freier Mann.«
»Aber sagt mir: Warum hat Euch Eure Gabe, in die Zukunft zu sehen, nicht vor der Falle gewarnt?«
»Das hat sie, aber ich wollte nicht auf diesen Teil meiner Ahnung hören. Ich habe es nicht ernst genommen. Zwei Männer wurden ermordet. Ich sagte mir, darin liege die Gefahr: Es sei einfach gefährlich, sich an einen Ort zu begeben, wo sich Morde zutrugen.«
»Richtig, obwohl die meisten Männer geradezu erpicht darauf sind, sich in Gefahr zu begeben. Das sieht man immer wieder, wenn sie in Scharen aufs Schlachtfeld strömen.«
»Was sie dorthin zieht, ist die Ehre.«
»Hm. Die Ehre hat schon viele ins Grab gebracht. Ich glaube nicht, dass ihr Leichentuch dadurch wärmer geworden ist.«
»Teilweise muss ich Euch beipflichten. Doch ein Mann muss sich an Regeln halten, warum also nicht an einen Ehrenkodex?«
Moira dachte darüber nach, während sie sich einen Weg auf dem unwegsamen Gelände suchte. Die Ehre an sich war ja nichts Schlechtes. Nur leider brachten sich viele Männer in ihrem Namen gegenseitig um. Wann immer ihr zu Ohren kam, dass jemand »in Ehren« gestorben sei, fragte sie sich, wie es wohl dem Toten damit ging. Wachte er im Himmel auf und merkte, dass sein Leben verwirkt war, sagte jedoch: »Na gut, immerhin habe ich noch meine Ehre«? Sie hörte, dass Tavig kicherte, also hatte sie ihre Überlegungen wohl laut geäußert.
»Ihr haltet nichts vom Wesen der Männer, stimmt’s, meine Liebe?«, fragte Tavig. Er war belustigt und gleichzeitig fasziniert von ihrer Meinung, die ihm zeigte, dass sie blitzgescheit war.
»Nichts würde ich auch wieder nicht sagen, aber es stimmt schon – von Zeit zu Zeit stehe ich vor Rätseln. Natürlich kommt es auch vor, dass sich im Tun eines Mannes großer Edelmut zeigt. Vielleicht denke und fühle ich einfach zu sehr wie eine Frau. Ich begreife es einfach nicht. Ich bin eben nicht als Mann erzogen worden, niemand hat mir die ritterlichen Tugenden und Regeln erklärt.«
»Nay. Frauen werden dazu erzogen, Leben zu schenken und es zu pflegen. Männer werden dazu erzogen, Leben zu nehmen.« Er
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