Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Viele Mütter heißen Anita

Viele Mütter heißen Anita

Titel: Viele Mütter heißen Anita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
den kleinen Landarzt.
    »Halten Sie den Mund!« sagte er lauter, als er wollte. Moratalla hob abwehrend die Hand.
    »Ruhe, meine Herren! Haben Sie wenigstens Ehrfurcht vor einer Sterbenden, wenn Sie sie sonst nicht haben!«
    »Das ist eine bodenlose Frechheit.« Dr. Osura wollte vortreten, aber Fredo Campillo hielt ihn fest. »Wenn du nicht still bist, werfe ich dich aus dem Zimmer«, flüsterte er drohend. Da war Dr. Osura still, er brach innerlich völlig zusammen und stützte sich weinend auf das Kopfende des Bettes. Ein Greis, in dem etwas zerbrach, woran er bis heute geglaubt hatte, ein Mensch, der sich mehr zutraute, als er zu tragen vermochte.
    Die Sonne durchbrach die Vorhänge. Ihr Schein lag fahl auf dem Gesicht Anitas. Es war bläulich-weiß, die Runzeln verschwanden fast, es sah so jung aus, so glatt, so voll Frieden, obgleich die Brust sich in Krämpfen wand und die Hände wie bei einem Erstickenden um sich schlugen.
    Moratalla blickte auf die Uhr.
    Sechs Uhr morgens.
    Im Hintergrund rührte sich Dalias, stand auf und kam verschlafen näher. Nach einem Blick auf die Kranke war er still und verbiß sich die Frage, die er auf den Lippen trug. Er ergriff den um sich schlagenden Arm und fühlte den Puls.
    Und noch während er den Puls zählte, richtete sich Anita auf, der kleine, dicke Körper schien von einer Feder getrieben zu werden, sie riß die Augen auf, aber der Blick war starr, ohne Erkennen … dann lief ein Zittern durch den Körper, er sank zurück, und ein Seufzer, so tief, als atme ein Bedrückter auf, durchdrang die Stille. Die Farbe wich aus dem Gesicht, es wurde wie Wachs, wie eine Plastik aus fahlem Alabaster, ein Meisterwerk in den vielfältigen Runzeln … nur die Augen waren stumpf – und die gequälte Brust lag still.
    Dr. Osura wandte sich ab. Moratalla beugte sich über Anita und drückte ihr die Augen zu. Vorsichtig, als könne er noch etwas zerbrechen, faltete er ihr die Hände und zog die Decke hoch.
    Da erst begriff Pedro, was geschehen war, begriff dieses Rätsel im Menschen, erkannte diesen Seufzer … und ein Schrei gellte durch das stille Haus, ein fast tierischer, greller, erbarmungsloser Schrei – er warf sich neben dem Bett auf die Knie, fiel mit dem Kopf auf die Brust Anitas und umklammerte den starren, toten Leib.
    »Mutter!« schrie er. »Mutter! Das ist nicht wahr. Das ist doch nicht wahr, Mutter …«
    Und er küßte ihre faltigen Lippen, die hohlen Augen, das schweißige Gesicht … er streichelte ihre fahlen Haare und rief immer und immer wieder ihren Namen.
    Moratalla stand mit Dalias in der Ecke und ließ ihn weinen. Campillo und Tortosa hatten verzerrte Gesichter, Dr. Osura stand am Fenster und blickte hinter dem Vorhang weinend in die herrliche Sonne und den weiten Park mit den Bänken.
    Moratalla winkte Dr. Tolax heran. Seine Stimme war klar wie immer. Keine Regung durchzog das Gesicht.
    »Schreiben Sie, Doktor Tolax«, sagte er halblaut. »Sonntag, den 30. Oktober 1952, sechs Uhr morgens, Anita Torrico, 62 Jahre alt, Bäuerin aus Solana del Pino, Santa Madrona, Exitus letalis durch Kollabieren postoperativ nach Verkleinerung des Herzens und des Herzbeutels.«
    Dr. Osura kam hinter dem Vorhang hervor und ging wortlos an Moratalla vorbei. Stumm öffnete er die Tür und verließ das Zimmer. Und keiner hinderte ihn daran, auch nicht Campillo.
    Moratalla blickte ihm nach und starrte einen Augenblick auf die wieder geschlossene Tür. Am Bett knieten Pedro und Elvira und beteten die alten, bäuerlichen Gebete des Hochlandes von Castilla. Moratalla unterbrach sein Diktat und sah zu Boden. Er wußte, wohin der Weg Dr. Osuras führte, und er empfand keinen Groll gegen den biederen Landarzt, der an der Grenze seines Verstehens angekommen war.
    Ruhig diktierte er dann weiter. Er sah, daß der Bleistift Dr. Tolax' zitterte, und er nahm ihm den Block aus der Hand und schrieb die Endzeilen selbst.
    Dann wandte er sich an Prof. Dalias, der erschüttert seinen dicken Körper an den kleinen Tisch lehnte.
    »Dalias – erinnern Sie sich unseres Gespräches heute nacht?«
    »Ungern, Moratalla.«
    »Es wird so sein. Und ich bin es zufrieden. Ich gestehe es – das Experiment ist mißlungen. Das Experiment vor dem Sie mich gewarnt hatten! Sie hatten recht, Dalias. Vielleicht sind sie der Klügere.«
    Dalias blickte zu Boden. »Der Vorsichtigere, Moratalla. Sie sind der Mutigere.«
    »Aber ich habe verloren. Der Besiegte hat immer unrecht.« Er wandte sich an die anderen im Zimmer.

Weitere Kostenlose Bücher