Viele Mütter heißen Anita
Michelangelo und Rodin standen. Ich appelliere an Ihren Kunstsinn und an Ihre Liebe zur Kunst, ich rufe Sie, meine Herren von der Regierung, sich beim Caudillo für diesen Jungen zu verwenden, und ich bitte Sie alle, die Mittel zur Verfügung zu stellen, Juan Torrico auf der besten Schule Spaniens – in Toledo – ein sorgenfreies Leben zu schaffen.«
Er schwieg und sah sich wieder im Kreise um. Man sah auf den Kopf und zögerte. Tortosa strich sich seinen Spitzbart – man nannte ihn wegen seiner verblüffenden Ähnlichkeit mit dem König nur Philipp II.
»Sie verlangen einen großen Entschluß, Campillo, in wenigen Minuten.«
»Ich rufe Sie als Spanier auf!« sagte Campillo laut. »Ich rufe Ihre Heimatliebe. Sehen Sie sich den Kopf an – er ist Juan Torricos Kopf!«
»Ein Selbstbildnis?« sagte Tortosa leise.
»Ja! Sehen Sie sein asketisches Gesicht, und sagen Sie dann nein! Ich würde die Welt nicht mehr verstehen.«
Und Ramirez Tortosa, Spaniens Kulturpapst aus Toledo, steckte die Hände in die Tasche und sagte deutlich in die Stille hinein:
»Ich werde ihn in meine Schule nehmen!« Und etwas leiser: »Ich glaube gestehen zu müssen, daß ich einen Schüler haben werde, der mehr kann als ich … schon jetzt …«
Fredo Campillo trat auf ihn zu und drückte ihm stumm die Hand.
Juan hatte gesiegt!
Ein Sieg über Leben und Zukunft …
In dieser gleichen Nacht lag Juan mit Fieber im Bett und krümm te sich unter den Stößen eines krampfartigen Hustens. Und jedesmal, wenn sein Körper sich aufbäumte und schüttelte, griff er sich stöh nend ans Herz und wurde weiß, sank er zurück in die Kissen und biß sich auf die Lippen, bis sie blau wurden und bluteten und das Rot des Blutes die Kissen befleckte.
Anita saß wieder neben ihm. Der Tag im strömenden Regen war an ihr vorübergegangen wie alle Tage. Auch die Fiesta hatte sie nicht ergriffen – sie hatte sie luftig und für Stunden wieder jung gemacht. Und nun hatte der Regen in den Bergen Juans Körper unterhöhlt und wieder geschwächt.
Leise streichelte Anita den schweißigen Kopf Juans. Sie pflegte ihn mit der rührenden Hingabe, die allen Müttern zu eigen ist, wenn sie am Bett ihres Kindes sitzen und auf seinen Atem lauschen, seinen Kopf fühlen und entsetzt sind, daß er sich heiß anfühlt, wie alle Mütter, die des Nachts wachen und den unruhigen Kranken immer wieder zudecken mit der unbegreiflichen Geduld, deren ein mütterliches Herz fähig ist.
Dr. Osura erschien noch am Abend und gab Juan eine Spritze gegen Lungenentzündung. Penicillin nannte er sie. Juan schlief nach ihr ruhiger und schwitzte. Anita und der Arzt sahen sich an seinem Bett an wie zwei Schuldige, die von der Verfehlung des anderen wissen und schweigen, weil es besser ist, still zu sein.
Auch Dr. Osura blieb die ganze Nacht über an Juans Bett und teilte sich mit Anita und Pedro die Nachtwache. In den Stunden, in denen er allein an Juans Bett saß, horchte er noch einmal mit dem Membranstethoskop das Herz ab und schüttelte den Kopf, als er eine merkwürdige Unregelmäßigkeit im Schlag feststellte. Das ist nicht nervös, dachte er erschrocken. Das muß organisch sein. Irgend etwas im Herzen hemmt es, vernünftig zu schlagen, und löst Krämpfe aus. Mein Gott, bloß das nicht! Das wäre furchtbar, das wäre eine Gemeinheit des Schicksals, diesem Jungen an der Schwelle des Ruhmes den Körper zerbrechen zu lassen.
Und wieder horchte er … tastete die Herzgegend ab – die Lunge hatte normale Laute, die Leber stimmte, die Nieren waren gut, der Magen und der Darm waren nach den Druckdiagnosen einwandfrei. Aber das Herz, dieses kleine pochende Etwas in der Brust, diese rätselhafte Pumpe, die 60 oder 70 oder 80 Jahre ununterbrochen arbeitet, als sei es ein Perpetuum mobile, dieses Herz hämmerte wie unter einer Qual.
Dr. Osura richtete sich auf und rollte die Gummiröhren des Stethoskops zusammen. Durchleuchten werde ich ihn, nahm er sich vor. Eine Röntgenaufnahme machen und sie zu einem Spezialisten schicken. Dieses Leben ist zu wertvoll für Spanien, als daß man als kleiner Landarzt die alleinige Verantwortung tragen könnte. Und man kann sich irren, es ist ein allzu menschlicher Fehler, und jeder Irrtum ist ein Verbrechen, wenn dieses wertvolle Leben darunter leiden könnte.
So saß Dr. Osura in dieser Nacht am Bett.
Sein Gesicht war voll Sorge und Verantwortung. Aber was mehr an ihm zerrte: Er wurde sich zum erstenmal bewußt, daß seinem Können Grenzen gesetzt
Weitere Kostenlose Bücher