Viele Mütter heißen Anita
eilte dann schnell der Bahre nach.
Jacquina aber zerriß ihr Taschentuch zwischen den Fingern, verlangte die Rechnung, bezahlte sie und rannte aus dem Lokal, hinein in die helle Septembernacht. Ihre Locken flatterten, und ihre rot geschminkten Lippen waren geöffnet, und ihre Augen brannten. Sie rannte hinunter zum Tajo und schöpfte mit der Hand Wasser, kühlte sich die Stirn und wurde doch nicht freier von dem Druck, der auf ihr lastete.
Da lief sie zurück bis zur Stadt und wand sich durch die Straßen, bis sie vor dem langgestreckten Haus der städtischen Klinik stand. Ein Pförtner saß zu dieser späten Stunde rauchend vor der breiten Tür an der gebogenen Auffahrt und las im Schein einer Deckenlampe, die unter einem Schutzdach hing, die neueste Nachtzeitung aus Madrid.
»Ist eben ein Mann eingeliefert worden?« schrie Jacquina. Sie war fast außer Atem und hielt sich erschöpft an den Pfeilern des Daches fest.
»Ja, Señorita.« Der Pförtner nickte. »Eine Herzsache.«
»Ich möchte wissen, wie es ihm geht.«
Der Pförtner steckte die Zeitung in die Rocktasche und schob die Mütze in die Stirn. »Sind Sie mit dem Patienten verwandt?« fragte er.
Einen Augenblick zögerte Jacquina. Dann sagte sie hastig:
»Ja, ich bin mit ihm verwandt. Ich bin seine Braut …«
»Ach so. Dann kommen Sie mit rein. Ich werde die Station anrufen, ob Sie zu ihm können.«
Sie gingen in die Pförtnerloge, und Jacquina saß auf dem schmalen Stuhl und wartete, die Hände im Schoß verkrampft, während der Mann vor ihr mit nüchtern-geschäftlicher Stimme anrief.
»Was ist mit dem Neueingang? Ja, vor zehn Minuten. Herzkollaps. Noch nichts? Danke.«
Und zu dem Mädchen gewandt, zuckte er mit den Schultern: »Noch nichts. Das heißt bei uns – noch bewußtlos. Da können Sie noch nicht zu ihm, da muß erst der Oberarzt oder der Professor selber nachsehen.«
»Dann warte ich solange. Ich darf doch?«
»Aber ja, Señorita.«
Und Jacquina saß in der Pförtnerloge und wartete. Es verrann eine Stunde, eine zweite … die Glocken der Kathedrale schlugen Mitternacht … sie saß noch immer, ein wenig nach vorn gebeugt, und wartete … geduldig, ergeben, von einem Gefühl getrieben, das sie nicht zu erklären wußte. Der Pförtner hörte Radio – sie hörte es nicht –, sie dachte an Juan, der blau in ihren Armen lag und nach Luft rang.
Und die Uhr der Kathedrale schlug wieder. Ein Uhr.
Jacquina war ein wenig eingenickt. Ein Arzt erschien, und sie schrak empor.
»Was ist?!« schrie sie grell. »Ist er tot?«
»Nein.« Der Arzt musterte das Mädchen in der grellen Aufmachung. »Sie können jetzt zu ihm. Er ist wach. Aber sprechen Sie nicht mit ihm … Sie dürfen ihn nur sehen.«
Und er ging voran, durch einen schlecht erleuchteten, langen, weißgetünchten Gang, nüchtern, kahl, kalt wie der Tod.
Sie folgte ihm schwankend und fühlte, wie ihr Herz schrie. Dann stand sie vor einer Tür und hatte plötzlich keine Kraft mehr, einzutreten. Der Arzt winkte ihr zu, die weiße Haube einer Schwester wehte um die Tür. Sie sah Jacquina an und nickte. Keiner sprach ein Wort.
Und dann sah sie Juan in einem Bett liegen, schmal, blaß, eingefallen, das Gesicht eines Toten. Es war das Letzte, was sie sah, daß er den Kopf wandte und sie in der Tür anstarrte. Dann wurde es dunkel um sie, und sie sank nach hinten in die Arme des jungen Arztes, der sie aus dem Zimmer zog …
In dem Verbandraum des städtischen Krankenhaus Toledo lag Juan auf der Bahre, und der Oberarzt hörte sich den Bericht des Kollegen an, der den Mann im Lokal Bonillo zuerst versorgt und dann hierhin gebracht hatte.
»Wir werden ihn röntgen«, sagte er nachdenklich. »Mit neunzehn Jahren solche Auswirkungen einer Kreislaufstörung? Selbst wenn es eine Mitralis ist, scheint mir der Anfall zu plötzlich zu kommen. Ich lasse alles vorbereiten, Herr Kollege.«
Er ließ durch die Operationsschwester Cardiazol injizieren und hörte mit dem Membranstethoskop die Herztöne ab.
»Sehr schwach«, murmelte er. »Merkwürdig gedämpft, als ob sich im Herzbeutel eine Flüssigkeit angesammelt hätte. Aber das ist doch unmöglich! Ein Herzbeutelgeschwür, Herr Kollege?« Er sah den Arzt aus dem Lokal groß und ernst an. »Das wäre das Todesurteil des jungen Mannes.«
Ein Assistent trat in den Raum. Er hatte eine dicke Gummischürze an, die ihm vom Kinn bis zu den Fußspitzen reichte. Er blickte kurz auf die Bahre und wandte sich an den Oberarzt.
»Wir können röntgen.
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