Viele Mütter heißen Anita
wissen – sonst keiner. Es ist besser so.«
»Und wie lange wird er noch leben?« Tortosa fühlte, wie seine Zunge versagte, als er diese Worte sprach. Es würgte ihn im Hals.
»Vielleicht ein Jahr noch. Wenn wir die Sekrete des Geschwürs entfernen, können es auch noch zwei sein. Aber auf keinen Fall mehr als fünf! Das ist das höchste und wäre schon ein Wunder.«
»Vielleicht gibt es Wunder?!« schrie Tortosa und sprang auf.
»Nein!« Der Professor schüttelte den Kopf. »Warten Sie darauf nicht. Lassen Sie ihn nicht nach Lourdes oder Fatima fahren … ich weiß, woran Sie jetzt denken!«
»Aber warum legt Gott in einen solchen Jungen ein Genie, wenn er es wieder nimmt, ehe es zur Entfaltung kommt?! Das ist doch unlogisch!«
»Haben Sie schon einmal Logik im göttlichen Wirken gesehen?« Der Professor sah Tortosa groß an. »Wen Gott liebt, nimmt er früh zu sich, heißt es! Das ist nach menschlichem Begreifen Widersinn … nach göttlichem Ermessen aber Gnade. Bitte, richten wir nicht mit Ihm – beugen wir uns stumm, weil wir nur Menschen sind.«
»Und es gibt kein Mittel gegen dieses kleine Geschwür?«
»Nein.«
»Operieren.«
»Können Sie ein Herz verkleinern? Ich kann es nicht. Und kein Kollege auf der Welt.«
»Aber Sie können doch nicht tatenlos zusehen, wie ein Genie systematisch eingeht. Wie es menschlich, körperlich verkümmert!«
»Nein! Ich kann ihm Morphium geben, wenn die Schmerzen zu groß werden!«
»Morphium!« Tortosa schrie unbeherrscht – er mußte schreien, denn der Druck in seiner Brust war so mächtig, daß er ihm den Atem nahm. »Ist das Ihre ganze ärztliche Kunst?«
Der Professor sah den Unbeherrschten an mit jenem Blick, der sagt, daß diese Wut nur der Beweis der eigenen Ohnmacht ist.
»Ja.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Ich beuge mich vor Ihnen und gestehe, ein Stümper meines Faches zu sein, wenn Sie mir ein Bildwerk des Praxiteles nachschaffen!«
Es war eine Antwort, die Tortosa plötzlich ernüchterte. Er hob beide Arme und ließ sie dann klatschend gegen den Körper zurückfallen.
»Also muß Juan sterben«, sagte er schwach.
»Ja. Und er muß sofort bei Ihnen aufhören!«
»Selbstverständlich. Und dann? Was soll ich ihm sagen?«
Der Professor sah zu Boden. Er war auf einmal unsicher.
»Das … weiß ich auch nicht«, murmelte er.
»Darf er den reisen?«
»Reisen? Wieso? Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
Tortosa sah hinaus auf den Tajo, der in der Sonne floß, als käme er von ihr.
»Ich kann es ihm nicht sagen«, stöhnte er. »Können Sie das verstehen? Ich kann nicht sagen: Juan, du mußt dich schonen … du mußt das Bildhauen aufgeben! Ich muß ihn ablenken, anders beschäftigen, hinhalten. Und darum soll er reisen. Ich werde ihm sagen, es seien Studienreisen. Er soll die Museen Spaniens besuchen, er soll sich die großen Werke der Vergangenheit ansehen, er soll von ihnen lernen. Das wird ihn von der Bildhauerei weghalten, und er wird, die Schönheit der Welt sehend, sterben.« Er blickte zu Boden und wandte sich ab. »Gibt es einen schöneren Tod?« fragte er leise.
»Nein.« Der Professor erhob sich. Er ging zu Tortosa und legte dem großen, zutiefst erschütterten Mann die Hand auf den Arm. »Lassen Sie ihn ruhig fahren. Ich könnte sagen: Es ist zu anstrengend. Aber ich will dem Jungen die Schönheit der Erde gönnen, die er nur noch so kurz schauen darf. Es wird die beste Lösung sein.« Er reichte Tortosa die Hand. Wie abwehrend drückte sie der Bildhauer – er sah dem kleinen Mann nach, der aus dem Zimmer ging und vorsichtig hinter sich die Tür schloß.
So also sieht der Tod aus, dachte er dumpf. Klein, schmächtig, gütig, menschlich … O Gott, was sind wir Menschen doch erbärmlich …
Mit zitternden Fingern schrieb er zwei Briefe. Es war ein Notschrei an Fredo Campillo und Dr. Osura.
Kommt sofort, stand in ihnen. Sofort! Juan … in Gott – Juan wird sterben … Was soll ich tun? Helft mir …
Diese Briefe gingen hinaus. Nach Madrid und nach Mestanza.
Dann verließ Tortosa die Akademie und ging über die Brücke zur Rua de los Lezuza, wo er Frau Maria Sabinar noch immer weinend antraf. Er tröstete sie und setzte sich oben in Juans Zimmer auf den Sessel, der am Fenster stand.
Stumm sah er hinaus auf den Tajo. Vor ihm, auf dem Tisch, lag ein Block Papier. Er schlug den Deckel auf und sah, daß es ein angefangener Brief war.
›Meine liebe Mutter, lieber Pedro und Elvira‹, stand da. ›Es gefällt mir herrlich in
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